© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

„Dann ist das traumatisch“
Uwe Tellkamp: Mit „Der Turm“ gelang ihm 2008 ein gefeiertes Meisterwerk. 2018 geriet er wegen seiner Kritik an der Asylpolitik in die Kontroverse. Nun legt der vielfach preisgekrönte Schriftsteller die von vielen Kritikern befehdete „Turm“-Fortsetzung „Der Schlaf in den Uhren“ vor
Moritz Schwarz

Herr Tellkamp, warum haben Sie sich nach so langer Zeit nun doch zu einem Interview mit dieser Zeitung entschlossen?

Uwe Tellkamp: Auch ein Schriftsteller ist eben in seinen Entscheidungen nicht völlig frei. Was meine ich damit? Seelenfrieden! Denn jedes Interview, das ich gab, vor allem wenn ich gewagt habe, die Grenzen des Diskursraumes zu übertreten, hatte eine unfaßbare Flut an Anwürfen und Unterstellungen zur Folge, so daß ich nicht mehr zum Arbeiten kam. 

Um so mehr stellt sich die Frage, warum Sie sich nun dennoch für das Interview entschieden haben?

Tellkamp: Weil ich endlich meinen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ fertiggestellt habe, was ohne einen gewissen Seelenfrieden unmöglich gewesen wäre. Jetzt kann ich auch wieder Citoyen sein, also ein politisch bewußter Bürger, der sich einmischt. Und warum ich gerade der JUNGEN FREIHEIT ein Interview gebe? Warum nicht? Ich würde auch der taz eines geben, nur fragt die mich nicht. Ich möchte damit auch ein Zeichen gegen die unsägliche „Ausgrenzeritis“ setzen, von der wir hierzulande befallen sind, und die dazu geführt hat, daß aus unserer Meinungsfreiheit ein überwachter Diskursraum geworden ist, aus dem gewisse Akteure ferngehalten werden. Fragt man aber nach, warum, so heißt es, das seien Extremisten. Nur, wer bitte legt das fest? Tatsächlich erfolgt die Ausgrenzung willkürlich sowie mit größerer Schärfe gegen rechts. Das aber hat mit Freiheit, Liberalität und einer offenen Gesellschaft nichts mehr zu tun. 

Sie haben erkärt, der kryptische Titel Ihres neuen Romans sei auch ein Sinnbild für Schlaf, der nicht mehr zu finden ist und die Unruhe, die daraus folgt – und die gleich jener Unruhe ist, die in Gesellschaften gärt, in denen über Tabuthemen nicht diskutiert werden darf. Hält „Der Schlaf in den Uhren“ den Verhältnissen, die Sie oben beschrieben haben, also den Spiegel vor? 

Tellkamp: Auch, ich denke aber, die Unruhe unserer Gesellschaft reicht tiefer. Seit der Finanzkrise 2008, spätestens aber seit 2015 sind wir in permanenter Unruhe, als auf die Asyl-, die Corona- und darauf die Ukraine-Krise folgte. Und nun droht auch noch eine Preiskrise. Mir erscheint unsere Gesellschaft durch all das hysterisiert, von Ängsten gequält und wie schlaflos, zugleich aber tief ruhebedürftig. Dazu kommt, daß wir eine überalterte Gesellschaft sind – und ältere Menschen neigen zu Ängsten, da ihnen der Mut der Jugend fehlt. 

Also geht es doch nicht um die Friedhofsruhe, die durch Diskursverweigerung entsteht? 

Tellkamp: Die spielt auch eine Rolle, ein Romantitel kann ja schillernd, vielfältig interpretierbar sein. Zudem hängt das eine mit dem anderen zusammen, etwa hat der Wechsel von der alten, analogen zur digitalen Welt von heute, mit ihrer schnellen, ständigen Kommunikation, sowohl unsere Unruhe als auch unsere politische Hysterisierung befördert. 

Ist Ihr Roman eine politische Stellungnahme? 

Tellkamp: Er ist politisch, aber nicht im Sinne einer Partei oder Agenda. Fabian, die Hauptfigur, ist eher Beobachter der Politik, die ihn umgibt. Und obwohl er das nicht will, denn eigentlich ist er ein Idylliker, greift sie immer mehr in sein Leben ein. Das aber, so erinnert er sich, hat er schon einmal erlebt, nämlich in der Diktatur, in der er aufwuchs. 

Sie meinen die DDR, auch wenn sie nicht so heißt, da Ihr Roman in einer Phantasiewelt spielt – in der man aber Züge des heutigen Deutschlands erkennen kann. 

Tellkamp: Fabian wird klar, daß es beginnt, wieder zu werden wie damals: Denn in der Diktatur seiner Jugend gab es, anders als oft behauptet, keine unpolitischen Rückzugsräume. Allein schon wen man kennenlernte, war dort mit Politik verknüpft, ebenso die Schule, die Karriere, was man lesen oder wohin man reisen konnte. Fabian erkennt, daß Politik nichts Abstraktes ist, sondern ein Ordnungsversuch – nämlich die Ordnung der Polis, wie die antike Stadt hieß, die gleichzeitig vielleicht die erste politische Gemeinschaft war. Deshalb will er verstehen, warum die Polis eine so große, in das Leben eingreifende Macht darstellt. Was treibt das an? Welche Interessen stehen dahinter? Warum ist es unausweichlich? Warum bilden sich selbst in anarchischen Gesellschaften unvermeidlich Parteien und Regierung? Kurz: Wieso kann, obwohl fast keiner die Politik liebt, niemand ihr entgehen?

Fabian sucht den, der seine Eltern an die Geheimpolizei verraten hat. Ist seine Suche eine Metapher – oder nur ein Handlungsgerüst, das das Geschehen trägt?

Tellkamp: Da tauchen wir nun tief ein: Zu Beginn stößt er auf Nemo, der Kapitän ist und in dieser merkwürdigen Unterwelt, in der der Roman spielt, umherfährt. Fabian folgt ihm dorthin, um herauszufinden, wer der Verräter seiner Eltern ist. Doch er beginnt sich zu fragen, was Verrat eigentlich ist? Schließlich, ob er nicht gar selbst der Täter sein könnte? Denn um in Nemos Unterwelt zu gelangen, muß er Mitglied der „Sicherheit“ werden, einer Art Nachrichtendienst, die dort residiert. Das jedoch ist heikel, denn er ist das Kind von Dissidenten und wollte mit solchen Mächten nie etwas zu tun haben. Nun aber muß er einen Bund mit ihnen schließen, einen klassischen faustischen Pakt, besiegelt mit Blut. Auch wenn das erst im Folgeband erzählt wird, denn „Der Schlaf in den Uhren“ ist der erste Teil eines Werkes, an dessen zweiten Teil ich mich noch machen muß. 

Der Roman besteht auch aus unzähligen Exkursen, Reflexionen aller möglichen Fragen, etwa wie politische Meinung entsteht und in der Gesellschaft Gefolgschaft einfordert. Findet sich der stellungnehmende politische Teil also nicht in der Handlung, sondern hier?

Tellkamp: Ja, diese Elemente sind Diskurse, Untersuchungen, Berichte, die etwa Fabians Beschäftigung mit dem Fiktivum Treva behandeln. 

„Treva“ ist der Phantasiestaat, in dem Ihr Roman spielt und der offenbar die Bundesrepublik reflektiert.

Tellkamp: Ich würde Treva vor allem als eine soziale Schichtung bezeichnen, deren Struktur und Funktionieren Fabian zu ergründen sucht. Zumal immer mehr der alten Dämonen zurückkehren, die so lange im Schlaf in den Uhren lagen und von der Gesellschaft Trevas daher für überwunden gehalten wurden, obwohl sie in Wahrheit nur verdrängt waren. Es sind Dämonen wie die Frage nach der Identität Trevas: Wer sind wir eigentlich? Wohin wollen wir? Haben wir ein Ziel? Gar eine Utopie? Entsteht eine Ideologie? Immer mehr gerät die Gesellschaft Trevas in Aufruhr über diese Fragen. Das wiederum treibt Fabian an, mehr und mehr zu ergründen. Sie sehen, es gibt ein elementares Interesse als Grundlage des Romans: die Neugier – die Fabian verkörpert. Dabei weiß selbst ich, der Autor, nicht, was er findet. Denn wie Fabian in die Unterwelt, so fahre ich in die Thematik des Romans ein, wie in ein Bergwerk aus Zeit, Geschichte, Erzählungen. Um mich durch seine Stollen zu graben, nach Erkenntnis zu schürfen und zu entdecken, wie all das lebt. 

Die Erkenntnisse Fabians erscheinen wie ein sich verdichtendes Unheil: die Freiheit wird immer kleiner, der Bürger mehr und mehr zum Untertan. Geschieht das so, weil Sie es in unserer Welt ebenso empfinden?

Tellkamp: Das kommt darauf an, wie man es betrachtet. Aber in der Tat wird in unserer Gesellschaft der Spielraum für bestimmte Meinungen immer enger. Vor allem betrifft das das Thema Identität. Nehmen Sie etwa die Nation. Ist sie an sich schon nationalistisch? Ich denke, nein. Oder nehmen Sie unser Verhältnis zur deutschen Geschichte und Kultur – das mir heute stark auf die Jahre 1933 bis 1945 beschränkt zu sein scheint. Oder unser Verhältnis zur klassischen Familie, dem unterstellt wird, es führe zur Unterdrückung anderer Formen des Zusammenlebens. Dabei geht es doch nur darum, wie wir zu dieser Grundlage unserer Gesellschaft stehen. Denn sie erhält und stabilisiert die Gesellschaft, während wir die klassische, immer noch die Mehrheit bildende Familie vernachlässigen und untergraben. Nun glauben Menschen, die diese Themen für historisch längst erledigt halten – etwa ein links-liberaler Beamter in Berlin-Mitte –, es gäbe keine Diskursbeschränkung, da sie ja gar kein Interesse an Diskursen dieser Art haben. Während aber ein Citoyen wie ich, der sich als konservativ versteht – was ich nicht aus Ignoranz bin, sondern weil ich abwäge: was hat sich bewährt, was muß sich erst noch bewähren –, diese Beschränkungen sehr stark spürt.

Stößt man an diese Diskursschranken, heißt es: Wer sich öffentlich äußert, müsse eben Widerspruch ertragen. 

Tellkamp: Ja, doch geht das Argument daneben, denn bei den Diskursschranken handelt es sich doch nicht um einfachen Widerspruch, sondern um soziale Sanktionen! Dann aber wird einem gesagt: Tja, soziale Konsequenzen gehen nun mal schon immer mit Widerspruch einher. Gut, das stimmt. Aber der Punkt ist, daß Positionen wie die meinen überhaupt mit Sanktionen verbunden sind, das ist das Problem! Denn es handelt sich um solche, die bis 2005 in der Mitte der Gesellschaft lagen, die etwa die CDU/CSU bis dahin wie selbstverständlich vertreten hat! Und die übrigens heute noch von geschätzt vierzig Prozent der Bevölkerung geteilt werden. 

Müßte diese Argumentation nicht auch der Linken einleuchten? Schließlich lobt sie die CDU für das Aufgeben dieser Positionen, was Ihre These also bestätigt. Warum werden Sie dann dennoch wahlweise als eine Art Krypto-Nazi oder ein Verwirrter behandelt, Motto: Was ist bloß falsch gelaufen mit dem Tellkamp?

Tellkamp: Das frage ich mich auch. Ich vermute, da wir in ganz verschiedenen Welten leben, haben wir eine unterschiedliche Wahrnehmung der Dinge. 

Klar, allerdings muß man zum Beispiel kein Homosexueller sein, um deren frühere Ausgrenzung als ungerecht zu erkennen. Also müßten doch auch Linke in der Lage sein, zu erkennen, daß hierzulande bei Rechten mit zweierlei Maß gemessen wird. 

Tellkamp: Das setzt aber Neugier und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, voraus. Zudem: Solche Sichtweisen entwickeln Menschen, die selbst eine Minderheitenerfahrung gemacht haben.

Das haben die Linken doch, sogar für lange Zeit. 

Tellkamp: Aber ebenso bestimmen sie schon seit Jahrzehnten mehr und mehr die Diskurse, und heute sind sie saturiert und haben sich an die Macht gewöhnt. Dazu kommt, daß wir es mit immer mehr nachkommenden Linken zu tun haben, die nur noch erleben, in der Mehrheit zu sein. Was offenbar auch dazu führt, daß sie sich nicht mehr mit der Realität auseinandersetzen müssen. Was wiederum etliche alte Linke, die dazu noch gezwungen waren, ich denke etwa an Sahra Wagenknecht, ebenso erschüttert wie mich.

Jüngst haben Sie in der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt: „Ich will keine Frankfurter Zustände ... ich hätte gerne, unter Achtung anderer Kulturen, meine erhalten. “ 

Tellkamp: Blicken wir auf die Alterskohorte der heute 18- bis 35jährigen, die der Grundstock der kommenden Generationen in Deutschland ist, dann sieht deren Zusammensetzung ganz anders aus als etwa noch die meinige. Und da stellt sich natürlich unweigerlich die Frage: Was bedeutet das? Was kommt da auf uns zu? Ist das gut? Was ich meine ist, es muß wieder möglich sein, daß wir uns auch über uns selbst Gedanken machen dürfen. 

Was fürchten Sie? 

Tellkamp: Was ich vor allem fürchte, ist der Abriß einer Überlieferung. Denn was ist es, was uns berechtigt, zu sagen: Das gehört uns. Zum Beispiel: Was berechtigt uns, hierzulande die Straßen deutsch zu benennen? Es ist diese Überlieferung: Hier liegen unsere Vorfahren, die mit ihrem Leben dafür bezahlt haben. Ihr Leben ist nur unsichtbar geworden, doch was sie geleistet haben, ist in den Aufbau des Landes und sein Erbe eingeflossen – zum Beispiel in seine Kirchen, in das Antlitz seiner Städte, in seine Märchen und Erzählungen, Sitten und Gebräuche. Natürlich zusammen mit vielen fremden Einflüssen. Das ändert aber nichts daran, daß auf diese Weise hier ein spezifischer Kulturraum entstanden ist. Nehmen Sie etwa Dresden, dort hat man italienische Architekten geholt – aber sie haben eben hier gebaut, ihre Gebäude stehen heute hier. Und der Mensch, der hier lebt, der nimmt diese Architektur als ihm zugehörig an, während er gleichzeitig seine eigene Lebenszeit hier einzahlt. So entsteht eine Kontinuität – oder wie der Filmemacher Thomas Heise treffend gesagt hat: „Heimat ist ein Raum aus Zeit.“ 

Mit Blick auf Geburtenschwund und Einwanderung haben Sie im „SZ“-Interview auch gesagt, daß man, wäre unser Land die Deutsche Bahn, von einem „Personalwechsel“ sprechen müßte. Was meinen Sie?

Tellkamp: Was ist denn ein Volk überhaupt? Es ist eine gemeinsame, prägende Kultur. Und wenn diese sich nicht mehr langsam und organisch, sondern plötzlich und disruptiv verändert, dann ist das traumatisch! Zum Beispiel wenn sich – noch nicht in Dresden, aber in westdeutschen Städten – Menschen in ihren eigenen Städten nicht mehr zu Hause, sondern fremd vorkommen, dann muß man das ernst nehmen. Das heißt, wir müssen damit anfangen, darüber, natürlich in aller Gesittetheit, aber endlich offen zu diskutieren. 






Uwe Tellkamp, gelang mit „Der Turm“ „wahrscheinlich der Roman des Jahrzehnts (und) der ultimative Roman über die DDR“ (Tilman Krause). Von der Kritik gefeiert, erhielt der 1968 in Dresden geborene Arzt und Schriftsteller 2008 den Deutschen Buchpreis. 2009 folgten der Deutsche Nationalpreis und andere Auszeichnungen. Nach drei Erzählungen erscheint nun sein neuer Roman „Der Schlaf in den Uhren“. Für ein frühes Fragment davon gewann er 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 

Foto: Citoyen Tellkamp: „Aus unserer Meinungsfreiheit ist ein überwachter Diskursraum geworden. Der Spielraum für bestimmte Meinungen wird immer enger, nehmen Sie etwa Nation, deutsche Kultur, Familie ... Manche Leute glauben, es gäbe bei uns keine Diskursbeschränkungen, da sie selbst ja gar kein Interesse an Diskursen dieser Art haben ... Ich aber spüre diese Beschränkungen sehr stark“