© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Weniger wäre mehr
Wahlrecht: Um den Bundestag zu verkleinern, will die Koalition die Erststimmen deckeln / Alles von der AfD kopiert?
Jörg Kürschner

Dreist abgekupfert und inhaltlich strittig: Die Ampel-Koalition prescht mit früheren AfD-Vorschlägen zur Verkleinerung des Bundestags vor und verärgert die Wahlrechtskommission.

Albrecht Glaser, langgedienter Jurist, traute seinen Augen nicht, als die drei Obleute der Ampel-Koalition in der vergangenen Woche medienwirksam ihre Vorstellungen zu einer Wahlrechtsreform veröffentlichten. Der hessische AfD-Abgeordnete verwies auf den Gesetzesantrag seiner Fraktion zur Verkleinerung des Bundestags vom September 2020, der seinerzeit ohne inhaltliche Begründung abgelehnt worden war. „Natürlich freuen wir uns, wenn auf diese Weise unser Vorschlag mehrheitsfähig wird: Ein neues Erlebnis für die AfD-Fraktion.“

Ob der nächste Bundestag 2025 tatsächlich entsprechend dem AfD-Vorschlag gewählt wird, ist heute völlig offen. Gerade erst hat sich die Wahlrechtskommission konstituiert, in der jeweils 13 Abgeordnete und Sachverständige Vorschläge für eine Verkleinerung des Parlaments erarbeiten wollen. Das personalisierte Verhältniswahlrecht, also die Verbindung von Personen- und Parteiwahl, soll vereinfacht werden. Danach hat jeder Wähler zwei Stimmen: die Erststimme für einen Direktkandidaten im Wahlkreis; mit der für die Sitzverteilung maßgeblichen Zweitstimme wird die Partei und deren Landesliste gewählt. 

Derzeit gibt es 299 Wahlkreise. Die gesetzliche Mindestzahl der Abgeordneten beträgt 598, derzeit sind es aber 736 Parlamentarier, die im September vergangenen Jahres den Einzug in den Reichstag geschafft haben. Das sind 138 Sitze mehr, ausgelöst durch die Überhang- und Ausgleichsmandate. Tendenz steigend. Ein Beispiel: Stehen einer Partei nach dem Anteil der Zweitstimmen 10 Sitze zu, hat sie aber 20 Direktmandate durch die Erststimmen gewonnen, bekommt die Partei 20 Sitze. Die 10 Sitze, die die Partei dazugewonnen hat, sind die Überhangmandate. Die Partei hat also mehr Sitze bekommen, als ihr eigentlich nach dem Wahlergebnis zustehen. Dieses Ungleichgewicht wird durch die Ausgleichsmandate beseitigt. Die anderen Parteien bekommen mehr Sitze zugesprochen, um das Wahlergebnis widerzuspiegeln.

Nach vielen vergeblichen Anläufen wollen die Wahlrechtsexperten der Koalition jetzt eine drastische Verkleinerung des Bundestags durchsetzen. Die Überhang- und damit auch die Ausgleichsmandate sollen kurzerhand abgeschafft werden. Über die Anzahl an Sitzen würde dann ausschließlich die Zweitstimme entscheiden, so daß der Bundestag immer auf  seine vorgesehene Größe von 598 Parlamentariern käme. Das klingt eingängig, ist aber rechtlich umstritten. Und kompliziert ist es auch. 

Die Zeiten deutlicher  Mehrheiten sind vorbei

Das Problem sind die Direktmandate. Wer eines erringt, also in einem Wahlkreis die meisten Stimmen holt, es aber nicht mit einem guten Wahlergebnis seiner Partei in der Zweitstimme untermauern kann, kommt nicht in den Bundestag. Ein gewonnener Wahlkreis ist also keine Garantie mehr für einen Sitz im Bundestag, wenn die Direktmandate durch die Zweitstimmen gedeckt werden müßten. Unhaltbar, schäumt die Regionalpartei CSU, die in Bayern stolz auf ihre fast flächendeckend gewonnenen Direktmandate verweist.  

Ein rechtlich unhaltbares Ergebnis, das gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verstoßen würde, meinen auch die Ampel-Koalitionäre, die sich deshalb einen Kniff ausgedacht haben: Eine „Ersatzstimme“, also eine dritte Stimme, soll letztendlich darüber entscheiden, wer in den Bundestag einzieht, wenn der Erstplazierte aufgrund seiner schwächeren Partei leer ausgeht. Die Ersatzstimme würde entscheiden, wen man „am zweitliebsten“ im Parlament hätte.

AfD-Obmann Glaser sprach sich in der konstituierenden Sitzung der Wahlrechtskommission für den Vorschlag der Ampel-Koalitionäre aus und verwies auf den AfD-Gesetzesentwurf von 2020. Die Bedeutung des Direktmandats habe sich gewandelt, heißt es dort zur Begründung. Während bis 1983 die Direktkandidaten von CDU/CSU und SPD „in der Regel deutliche Mehrheiten erreichten“, habe das „grundlegend andere Wählerverhalten“ 2017 dazu geführt, daß 27 direkt gewählte Abgeordnete „in ihren Wahlkreisen weniger als 30 Prozent Erststimmenanteil erreicht haben“, zwei von ihnen sogar weniger als 25 Prozent. Knapp zwei Jahre hat es also gedauert bis diese Argumentation der AfD auch SPD und Grüne überzeugt hat. „Was ist das für eine Mehrheit, wenn 70 Prozent jemand anderes wollte?“ fiel jetzt SPD-Obmann Sebastian Hartmann auf, der seinen Entwurf als „mutig“ lobte. Sein Grünen-Kollege Till Steffen verwies auf einen „Negativrekord, da jemand mit 18,2 Prozent der Erststimmen seinen Wahlkreis gewonnen habe“. 

Fazit der AfD von 2020: „Daß ein Wahlkreisbewerber, gegen den über 70 Prozent der Wahlberechtigten gestimmt haben, dennoch zum Inhaber des Direktmandats erklärt werden muß, ist verfassungsrechtlich nicht nur nicht zwingend, sondern im Gegenteil demokratietheoretisch und damit verfassungsrechtlich problematisch.“ 

Andererseits wird in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2012 gefordert, daß durch die Direktwahl in Wahlkreisen „zumindest die Hälfte der Abgeordneten eine engere persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis haben“ solle. Danach stünde Wahlkreissiegern ihr gewonnenes Mandat in jedem Fall zu. 

So sieht es auch die Unionsfraktion, die „eine Entwertung des Wahlkreis-Gedankens“ befürchtet, die Politikverdrossenheit schüre. Wie würden die Wähler reagieren, wenn der Erststimmenkönig nicht ins Parlament darf? Fraktionschef Friedrich Merz drohte bereits mit einer Verfassungsklage, falls die Ampel ihr Modell im Bundestag durchsetzen sollte. Um das Thema Direktmandat dürfte die Diskussion in der Wahlrechtskommission kreisen, die bis Ende Juni 2023 ihren Abschlußbericht vorlegen will. 

Die Verstimmung über den überraschenden Vorstoß der Ampel-Obleute noch vor der ersten Sitzung – der ehemalige Bundesverfassungsrichter Rudolf Mellinghoff hatte sich gefragt, ob die Arbeit der Kommission schon beendet sei – dürfte sich bald legen.

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Foto: Volles Haus: Bundestagsabgeordnete drängen sich im Plenum bei einer namentlichen Abstimmung während der vergangenen Legislaturperiode