© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Sperrholz, Flip-Flops und Tränen
Reportage: Die junge freiheit konnte eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und Asylbewerber besichtigen
Hinrich Rohbohm

Es ist das einzige Mal, daß in den Augen von Markus Rothfuß so etwas wie ein kurzer, leichter Anflug von Alarmstimmung aufflackert. „Eine große Bitte habe ich: Machen sie keine Fotos vom Maghreb-Haus, das könnte sonst übel ausarten, und das wollen wir hier lieber vermeiden.“

Rothfuß ist stellvertretender Leiter der Abteilung 9 im Regierungspräsidium Karlsruhe. Die Ziffer steht für den Aufgabenbereich „Flüchtlingsangelegenheiten, landesweite Steuerung, Aufnahme, Unterbringung und Verteilung“. Auch das Ankunftszentrum für Flüchtlinge im Heidelberger Patrick-Henry-Village fällt in seine Zuständigkeit. Gemeinsam mit dem Europaabgeordneten Lars Patrick Berg steuert er jenes Maghreb-Haus an, von dem keine Fotos gemacht werden sollen.

Berg war 2019 für die AfD ins Europäische Parlament gewählt worden. Vor einem Jahr verließ er die Partei, nachdem diese sich für den Austritt aus der EU ausgesprochen hatte. Jetzt gehört er der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer an, sitzt für sie im Verteidigungs- sowie im Auswärtigen Ausschuß.

Im Müllcontainer landen Koffer, Kinderwagen und Obst

Er hat sich beim Karlsruher Regierungspräsidium zum Besuch des Heidelberger Ankunftszentrums angemeldet, will sich über die „Abläufe“ in der Einrichtung angesichts steigender Flüchtlingszahlen aus der Ukraine sowie ebenfalls zunehmender Migrationszahlen aus anderen Staaten erkundigen. Am Eingang muß er mit seinem Wagen halten. Ein Metallzaun versperrt die Weiterfahrt. Security erscheint am Autofenster. Ausweiskontrolle. Berg wird bereits erwartet. Der Sicherheitsmann öffnet das Tor im Metallzaun, der Politiker darf passieren. 

Bis 2013 diente das Areal der amerikanischen Armee als Familienwohngebiet, in dem zu Spitzenzeiten 16.000 Amerikaner lebten. Jetzt prägen Afghanen, Syrer, Afrikaner und neuerdings Ukrainer das Bild auf dem Gelände. „Bis zu 2.000 Flüchtlinge sind hier untergebracht. Pro Tag kommen etwa 180 Leute bei uns an“, erklärt Rothfuß dem Abgeordneten. Die Zunahme sei spürbar, wenngleich andere Bundesländer weitaus stärker mit der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge konfrontiert seien als Baden-Württemberg. „Vor allem die Ankunft von Afghanen hat stark zugenommen.“

Der Weg zum Maghreb-Haus führt an einer Gruppe Afrikaner vorbei, die sich vor einer der Unterkünfte eingefunden hat. Gefüllte Plastiksäcke voll mit Kleidung stapeln sich daneben. Stimmengemurmel. Eine Mischung aus neugierigen und mißtrauischen Blicken, als der Besucher näherkommt. „Freitags ist Abreisetag“, lüftet der Abteilungsdirektor das Geheimnis des Menschenauflaufs. Die Migranten werden von hier auf die Aufnahmeeinrichtungen im Land verteilt. Maximal 18 Monate bleiben sie in der Erstaufnahme. „Diese zentrale Abfertigung ist für uns eine enorme Erleichterung“, sagt Rothfuß. Mit der Folge, daß sich auch der Verfahrensprozeß beschleunigt hat.

Ganz in der Nähe der Unterkünfte stehen mehrere Müllcontainer. Ein Blick hinein verblüfft. Kinderwagen liegen darin. Rollkoffer, Rucksäcke, meist sogar in gutem Zustand. Weggeworfen. Ebenso Jacken, frische Äpfel, Orangen. Und Schuhe.

„Raten Sie mal, was die Flüchtlinge am meisten haben wollen“, fordert der Verwaltungsfachmann Rothfuß den Politiker Berg auf. Der muß passen. Auf das meistbegehrte Gut der Neuankömmlinge wäre er nie gekommen: Flip-Flops. Badesandalen. „Vor allem die Flüchtlinge aus südlichen Ländern sind es gewohnt, sie zu tragen. Die laufen damit sogar bei kaltem Wetter herum“, erklärt Rothfuß.

Am Maghreb-Haus wird der Appell des Abteilungsdirektors, hier nicht zu fotografieren, verständlicher. Zerstörte Türen, eingeschlagene Fenster, mit Sperrholzplatten notdürftig abgedichtet. „Natürlich haben wir hier Problemfälle“, gibt Rothfuß unumwunden zu. Und im Maghreb-Haus kommen diese durchaus häufiger vor. „Wir reparieren nicht alles sofort, das ist auch eine Form von erzieherischer Maßnahme.“ Wie es der Name schon verheißt, sind in diesem Gebäude Migranten aus Marokko, Algerien und Tunesien untergebracht.

Die Erfahrung zahlreicher Reportagen für die JUNGE FREIHEIT aus Migranten-„Hotspots“ lehrt: Fotos unter diesen zumeist jungen, männlichen Gruppen können innerhalb von Sekunden eine aufgeheizt-aggressive Stimmung hervorrufen, Steinwürfe und Angriffe zur Folge haben. Also keine Fotos. Es bleibt friedlich.

„Das europäische Asylsystem ist am Ende“

„Man sollte sich allerdings davor hüten, Bevölkerungsgruppen zu stigmatisieren. Selbst bei den Ukrainern ist nicht immer alles positiv. In jeder Gruppe gibt es Leute, die sich gut integrieren, und welche, mit denen es Ärger gibt“, stellt Rothfuß klar. In unmittelbarer Nähe des Gebäudes parken mehrere dunkelblaue Transporter. Beschriftet mit „Airport-Shuttle-Service“. Für die Abschiebungen.

Genau bei denen hakt es. „Durch das Ankunftszentrum haben sich die Verfahren zwar extrem beschleunigt. Doch meist scheitern die Abschiebungen an nicht zustande kommenden Abflügen.“ Auch Lars Patrick Berg lobt: „Abläufe wie die erkennungsdienstliche Behandlung und die Gesundheitsüberprüfung sind verbessert und professionalisiert worden.“ So verfügt das Ankunftszentrum mittlerweile über digitale Geräte zum Auslesen der Handydaten jener Migranten, die ohne Paß nach Deutschland gekommen sind. „Wer kaum Chancen auf Asyl hat, erscheint zumeist ohne Dokument. Bei jenen mit guten Chancen verhält es sich umgekehrt“, erläutert Rothfuß.

Für Berg läßt die stetig steigende „Ankunft von Asylantragstellern aus aller Welt“ jedoch nur einen Schluß zu: „Das europäische Asylsystem ist am Ende. Die Politik ist endlich in der Pflicht, die nationale Sicherheit und die nationalen Interessen im Blick zu haben.“ Eine „fahrlässige und naive Einwanderungspolitik“ stehe „hierzu in komplettem Widerspruch“.

Unterdessen schlendern einige Gruppen, mutmaßlich aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum, auf den Ausgang zu. Sie können sich innerhalb und außerhalb der Einrichtung frei bewegen. Direkt davor steht eine kleine Bude. Ein Gemischtwarenstand, vollgepackt mit Keksen, fettarmer Milch, diversem Knabberzeug, Fertigsuppen. „Am meisten besorgen sich die Leute bei mir Zigaretten, Chips und Cola“, verrät der Verkäufer. Und Alkohol? „Gibt’s hier nicht.“ Aus gutem Grund. „Es gibt aber auch Einrichtungen, die bieten ganz bewußt direkt vor Ort Alkohol zum Verkauf an“, sagt Rothfuß. „Mit dem Alkohol beginnen meist die Probleme. Die Leute gehen sonst an die verschiedensten Orte, um ihn sich zu beschaffen. Das macht es schwieriger, bei auftretendem Ärger einzugreifen. Vor Ort ist das leichter.“

Im Verwaltungsgebäude zeigt Rothfuß anhand einer Bauzeichnung die Konzeption der Einrichtung. Innerhalb von eineinhalb Jahren könne sie an jedem anderen Ort gebaut werden. Etwa an den europäischen Außengrenzen. Oder in den direkt angrenzenden EU-Nachbarländern. „Da bewegen wir uns dann aber im Entscheidungsbereich der Politik“, macht der Beamte die Grenzen seiner Handlungsmöglichkeit deutlich.

Die Pandemie habe zudem auch im Heidelberger Ankunftszentrum Spuren hinterlassen. „All die ehrenamtlichen Helfer konnten ja nicht kommen, den Leuten fiel die Decke auf den Kopf.“ Eigentlich sei er dagegen, den Flüchtlingen Fernseher in ihren Unterkünften zu beschaffen. Doch während der Pandemie seien die Geräte einfach hilfreich gewesen, um für Ablenkung zu sorgen.

Ein weiteres Problem: traumatisierte Flüchtlinge, gerade jetzt aus der Ukraine. Im Gegensatz zu den Afrikanern kämen sie sehr schnell nach Deutschland, fänden kaum Zeit, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Rothfuß erzählt von verstörten ukrainischen Kindern, die mit ansehen mußten, wie ihre Verwandten von Bomben zerfetzt wurden.

Im Gebäude der Gesundheitsüberprüfung sitzen zwei ältere ukrainische Frauen. „Woher kommen Sie?“ fragt Berg. Eine von ihnen ist aus Mariupol. Der Abgeordnete spricht ihr Mut zu, wünscht ihr und der Ukraine alles Gute. Die alte Dame bekommt feuchte Augen, wischt sich verlegen mit der Hand durch das Gesicht. Es ist bei weitem nicht die einzige Träne, die hier derzeit unter ihren Landsleuten fließt. 

Fotos: Asylbewerber am Eingang zum Patrick-Henry-Village: „Wir reparieren nicht alles sofort“; Politiker Lars ­Patrick Berg (l.), und der Stellvertretende Abteilungsleiter Markus Rothfuß im Heidelberger Ankunftszentrum: „In jeder Gruppe sind Leute, die sich gut integrieren und welche, mit denen es Ärger gibt“