© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Aus Spaß wurde Ernst
Großbritannien: Boris Johnson hält sich trotz Krisen im Amt – nun will er durchstarten
Julian Schneider

Er regiert noch immer in Downing Street 10. Sein politisches Überleben hing monatelang an einem seidenen Faden. Doch der riß nicht. Inzwischen sitzt Boris Johnson als Premier wieder fester im Sattel – trotz der gegen ihn verhängten Geldbuße für einen Lockdown-Verstoß, trotz der immer noch köchelnden „Partygate“-Affäre und trotz herber Verluste der Konservativen bei den Kommunalwahlen im Mai. Seine Gegner schaffen es einfach nicht, Johnson den entscheidenden politischen Todesstoß zu geben. Das Momentum für ein Mißtrauensvotum war da, doch dann kam der Ukraine-Krieg dazwischen. Johnson warf sich in die Pose eines Mini-Churchills, sein Verteidigungsminister organisierte schnell massive Waffenlieferungen. Auch der neue Konflikt mit der EU über Brexit-Sonderregeln in Nordirland hilft Johnson, der damit seine Brexit-Basis abermals zu mobilisieren hofft. 

Vielen Wählern ist die Lust auf Witze vergangen

In der EU drohen seine zahlreichen Feinde, vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, mit einer harten Reaktion. Aber gleichzeitig hat der Ukraine-Krieg die britische Regierung wieder enger an die anderen europäischen Hauptstädte geführt. Der Kreml, der Johnson zum „aktivsten anti-russischen Führer“ erklärt hat, stärkte ihn damit. Der Hausherr der Downing Street entgegnete, er sei „nicht anti-russisch, sondern anti-Putin“.

Angesichts des Kriegs in Europa erscheint „Partygate“ – und Johnsons 50-Pfund-Strafe für einen Geburtstagskuchen in Tupperware – den Abgeordneten der Tory-Fraktion doch zu trivial, um deshalb den Premier zu stürzen. Nur eine Handvoll Hinterbänkler fordern das jetzt noch. Allerdings droht Johnson noch der geharnischt kritische „Gray-Untersuchungsbericht“ über die feuchtfröhlichen Verstöße in der Downing Street gegen die von ihm selbst erlassenen Vorschriften im Corona-Lockdown 2020 und 2021. Trotzdem wird der politische Überlebenskünstler Johnson auch diese wohl mit Schrammen überstehen. Seine Verbündeten waren entzückt, daß auch Oppositionsführer Keir Starmer sich mit polizeilichen Ermittlungen wegen eines Lockdown-Verstoßes herumschlagen muß. Dem braven Juristen könnte „Beergate“, ein spätabendliches Curryessen samt Flaschenbier mit Parteifreunden in Durham während des Lockdowns, zum Verhängnis werden. Der Labour-Chef zauderte drei Tage, dann kündigte er seinen Rücktritt für den Fall einer Geldstrafe an. Im Conservative Party Headquarter würden das inzwischen aber manche bedauern. 

Der Ex-Generalanwalt Starmer ist solide und honorig, doch gilt er auch als hoffnungsloser Langweiler, der nur wenig Wähler mitreißt. Das zeigte sich auch bei den Kommunalwahlen: Labour gewann zwar einige Sitze hinzu, doch es blieb ein glanzloser Sieg. Stärker zugelegt haben die Liberaldemokraten, die im Süden zu einer Gefahr für die Konservativen werden.

Viele Bürger schütteln nur noch verständnislos den Kopf über das Hickhack rund um Partygate und Beergate. Gibt es nicht Wichtigeres? Großbritannien erlebt gerade eine Lebenshaltungskosten-Krise wie seit Jahrzehnten nicht mehr. „Apokalyptische“ Preissteigerungen sieht der Zentralbankchef. Die Inflation wird dieses Jahr auf zehn Prozent steigen. Der Frust der Bürger über die galoppierend steigenden Preise und Energierechnungen entlädt sich zum Teil gegen die Johnson-Regierung und besonders gegen Schatzkanzler Rishi Sunak. 

Der einst als Kronprinz gehandelte smarte Ex-Investmentbanker ist in Umfragen regelrecht abgestürzt, zumal nachdem herauskam, daß seine Ehefrau, die Tochter eines indischen Milliardärs, dank eines speziellen Steuerstatus in Britannien kaum Steuern zahlt. Indirekt half Sunaks Absturz Johnson – denn die verbliebenen Tory-Rebellen, die den Premier gerne stürzen wollten, haben derzeit keine naheliegende Alternative zu bieten.

Auch wenn der Brexit-Premier also vorerst weiter im Amt bleibt: Sein öffentliches Ansehen ist schwer lädiert, die einst stolzen Popularitätswerte sind unterirdisch. „BoJo has lost his mojo“, unken die Kolumnisten. Tatsächlich besaß Johnson lange Zeit einen „Mojo“ (Glücksbringer, Talisman), nicht nur während der Corona-Zeit, als er erst selbst knapp überlebte und dann dank des erfolgreichen Impfprogramms politisch Wiederauferstehung feiern konnte. In seiner Karriere und seit drei Jahren als Brexit-Premier hat er Affären und Turbulenzen überstanden, die andere längst erledigt hätten. Mit einer großen Portion Witz und Selbstironie – sein Markenzeichen „verwuschelte Haare“ half dabei – hatte er sich ein Image als Anti-Politiker geschaffen, das Ernst in Spaß verwandelte.

Aber vielen Wählern ist die Lust auf Witze vergangen. Im Dezember 2019 hatte Johnson bei der Unterhauswahl – gegen den Linksaußen Corbyn – einen großen Sieg erzielt, weil er in Nordengland mit dem Brexit-Versprechen die Wahlkreise abräumte. Aber jetzt bröckelt seine Partei überall. Tory-Abgeordnete fragen bang, ob sie mit dem Premier noch eine Chance haben, die nächste Unterhauswahl wieder zu gewinnen. Der ehemalige Gesundheitsminister Jeremy Hunt etwa sagt öffentlich via Times, daß sie verlieren werden.

Eine verschärfte Migrationspolitik soll bei Briten punkten

Angesichts einer drohenden Niederlage würde die Tory-Fraktion Johnson doch wohl schnell vom Thron werfen. Hunt möchte ihn wohl herausfordern, vor drei Jahren unterlag er aber beim Mitgliederentscheid. Auch Außenministerin Liz Truss gilt als sehr ehrgeizig, doch hält sie sich mit Ambitionen auf den Top-Posten bedeckt. Ganz oben in der Beliebtheitsskala liegt nun Verteidigungsminister Ben Wallace (Spitzname „Captain Fantastic“), dessen Haudraufart aber auch nicht alle überzeugt.

Bei allem Kampf ums Überleben ist der Konservativen Partei, die seit zwölf Jahren regiert, aber der politische Kompaß abhanden gekommen, sagen Kritiker. Was ist Johnson im Kern? Ein Konservativer, ein Liberaler, ein Opportunist? Daß der Ex-Journalist ideologisch flexibel ist und sich nicht übermäßig mit Prinzipien belastet, ist bekannt. Seine Entscheidung, Brexit-Wortführer zu werden, traf er wie ein Spieler, der eine Wette eingeht. Jetzt, in der Krise, läßt er dem rechten Parteiflügel Spielraum, etwa Innenministerin Priti Patel, die versucht, illegale Immigranten mit ihrem Ruanda-Deportationsplan abzuschrecken.

Die Tories konnten den Rückstand auf Labour zwar zuletzt etwas verringern, doch liegen sie etwa fünf Punkte dahinter. Wäre jetzt Parlamentswahl, würden sie krachend verlieren. Beim regulären Wahltermin Ende 2024 wieder eine Mehrheit zu erringen, dürfte extrem schwierig werden.

Foto: Premier Boris Johnson mit einem Mark 3 LML-Raketensystem: Der „Anti-Putin“ setzt auf Angriff