© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Vorgegaukelte Normalität
Ukraine-Krieg: „Barbier von Sevilla“ in Kiew und Annexionswünsche in Cherson
Marc Zoellner

In das Taras-Schewtschenko-Opernhaus im Herzen Kiews kehrte ein klein wenig Normalität ein: Zwar konnten aufgrund der kriegsbedingten Sicherheitsmaßnahmen lediglich 300 der über 1.650 Plätze vom Publikum belegt werden, doch nach drei Monaten Krieges öffneten sich zum ersten Mal erneut die Vorhänge der Oper, symbolisch als überdimensionale Ukraineflaggen gestaltet, um die Zuschauer mit Gioachino Rossinis „Barbier von Sevilla“ zu unterhalten. „Ich hatte diesen Morgen das Gefühl, eine Premiere zu singen“, berichtete die Sopranistin Olga Formichova später mit Freudentränen im Gesicht. „Dabei singe ich meine Rolle in diesem Stück schon seit Jahren.“ 

Polen gewähren Ukrainern polnische Bürgerrechte

Das Publikum dankte ihrem Auftritt als Rosina mit zehnminütiger stehender Ovation danken. Denn spätestens seit der Bombardierung des Dramatheaters von Mariupol durch russische Truppen, durch die bis zu 600 Schutz suchende Zivilisten ums Leben gekommen sein sollen, wagte kaum noch jemand, von einem raschen Wiederaufblühen kultureller Veranstaltungen in der Ukraine zu träumen. 

Eine neue Normalität bahnte sich beinahe zur selben Zeit zwischen der Ukraine und ihrem polnischen Nachbarn an. Am Sonntag reiste der polnische Präsident Andrzej Duda zu einem Überraschungsbesuch nach Kiew, um als erster ausländischen Staatschef seit Kriegsbeginn am 24. Februar im ukrainischen Parlament eine Rede zu halten. „Es sind beunruhigende Stimmen aufgetaucht, die sagen, die Ukraine sollte auf Putins Forderungen eingehen“, mahnte das polnische Oberhaupt. „Doch nur die Ukraine hat das Recht, über ihre eigene Zukunft zu entscheiden.“ Bereits vorab hatte die polnische Regierung ein Gesetz beschlossen, um Ukrainern in Polen einen Großteil der polnischen Bürgerrechte zu gewähren. „Fester Wohnsitz, Arbeitserlaubnis, Bildung, Gesundheitsfürsorge und Sozialleistungen“, so versprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seinem polnischen Amtskollegen, würden demnächst auch als eine Art „gespiegeltes Gesetz“ für polnische Staatsbürger in der Ukraine garantiert. In Polen haben derzeit rund 3,5 Millionen ukrainische Flüchtlinge Zuflucht gefunden.

Doch spätestens in der Diskussion des Parlaments um mutmaßliche russische Kriegsverbrechen wich die Normalität der Tragödie. „Nach Butscha, Borodjanka und Mariupol darf es keinen normalen  Umgang wie gewohnt mit Rußland mehr geben“, forderte Duda auch im Hinblick auf den derzeit stattfindenden ersten Prozeß gegen einen russischen Soldaten auf ukrainischem Boden. 

Dem 21jährigen Vadim Shishimarin, einem Kommandeur der 4. Panzerdivision, der sich Anfang März freiwillig Soldaten der ukrainischen Armee ergeben hatte, wurde vorgeworfen, während seines fluchtartigen Rückzugs aus den Gefechten nördlich von Kiew aus einem gestohlenen Auto heraus einen 62jährigen Radfahrer mit mehreren Schüssen aus seinem Schnellfeuergewehr getötet zu haben. Shishimarin hatte sich bereits vergangene Woche Mittwoch für schuldig bekannt, jedoch auf den Umstand verwiesen, er habe auf Befehl seines Vorgesetzten gehandelt. Am Montag wurde der russische Soldat zu lebenslanger Haft verurteilt. Shishimarin sei nur die Spitze des Eisbergs, so Iryna Wenediktowa: Laut der ukrainischen Generalstaatsanwältin laufen derzeit Ermittlungen zu mehr als 11.000 mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen. 

Moskau sieht Asow-Soldaten als „Nazi-Kriminelle“

Moskau bestreitet sämtliche Vorwürfe von  Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Speziell in Mariupol, so die offizielle Lesart des Kreml, hätten Mitglieder des paramilitärischen ukrainischen „Regiment Asow“ Zivilisten als Geiseln gehalten und sie durch eine Sprengung des Theaters getötet. Von russischen und tschetschenischen Einheiten auf dem weitläufigen Gelände des Asow-Stahl-Kombinats seit dem 10. April eingeschlossen, kapitulierten die letzten verbliebenen Regimentsmitglieder am 20. Mai; zwischen 1.700 und 2.500 „Asow“-Mitglieder wurden anschließend in russische Gefangenschaft überführt. Für diese Woche wird eine Entscheidung des Obersten Gerichts der Russischen Föderation erwartet, die das „Regiment Asow“ zur terroristischen Vereinigung erklärt. Hunderten gefangenen Regimentsmitgliedern könne in Rußland dann die Todesstrafe drohen. 

Einen Austausch mit russischen Kriegsgefangenen in der Ukraine lehnte der Vorsitzende des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, zumindest für Mitglieder des „Regiments Asow“ kategorisch ab: Von Moskau würden diese nicht als reguläre Soldaten gewertet, sondern einzig als „Nazi-Kriminelle“.

Am Montag ließ der stellvertretende russische Außenminister, Andrej Rudenko, verlauten, daß Moskau zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit der Ukraine bereit sei, wenn Kiews Haltung „konstruktiv“ sei. Fast parallel dazu erklärte Selenskyj, daß der Krieg erst nach „Rückholung aller Gebiete“ beendet sei – während prorussische Behörden des eroberten Oblasts Cherson um die Annexion des Gebiets am Schwarzen Meer baten.