© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Dünger frißt die Gewinne auf
Getreidemarkt: Massive Preiserhöhungen schlecht für Verbraucher, gut für die Landwirte?
Alexander Tschich

Vor 50 Jahren mußte die hochgerüstete Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) für eine Milliarde Dollar Getreide importieren, um eine Versorgungskrise abzuwenden – Lieferant waren ausgerechnet die USA, der Hauptgegner im Kalten Krieg. Drei Jahre später mußten die dank Ölkrise sprudelnden Deviseneinnahmen erneut zweckentfremdet werden: „Der Kreml kann seine Bürger nicht ohne West-Hilfe ernähren: Mißernte und Mißwirtschaft zwingen die Sowjetunion – bei achtmal soviel Landarbeitern wie in den USA – wieder zu Großeinkäufen von Getreide in Nordamerika und Australien“, ätzte der Spiegel (34/75). Und wegen der Einkaufspolitik der Sowjets müsse wohl „wieder der amerikanische und nicht der russische Verbraucher die Preissteigerungen“ tragen.

1985 mußten 47 Millionen Tonnen – doppelt soviel wie 1972 – importiert werden. Und 1991 war die UdSSR am Ende, doch ihre beiden wichtigsten Nationen stiegen nach dem Ende der KP-Diktatur zumindest in die Spitzenliga der Weizenlieferanten auf: Rußland war 2020 laut Welternährungsorganisation FAO mit 37,3 Millionen Tonnen und 18,8 Prozent Marktanteil der weltgrößte Exporteur, gefolgt von den USA und Kanada (je 26,1 Millionen Tonnen; je 13,2 Prozent) und Frankreich (19,8 Millionen; 10 Prozent). Die Ukraine kam mit 18,1 Millionen Tonnen (9,1 Prozent) auf Rang fünf. 

Ein Selbstversorgungsgrad von 88 Prozent in Deutschland

Deutschland lag mit 9,3 Millionen Tonnen (4,7 Prozent) auf Rang acht. Bei Weizen und Gerste sind wir statistisch Selbstversorger und die EU ist bei Nahrungsmitteln insgesamt Nettoexporteur. Doch höhere Weltmarktpreise gehen an einer offen Volkswirtschaft spurlos vorbei. Schon vor dem Ukraine-Krieg zogen die Weizenpreise an: Aus unter 200 Euro pro Tonne (Frühjahr 2020) wurden im Herbst 2021 über 300 Euro – am 17. Mai 2022 lag das Handelshoch bei 438 Euro. Mehl und Getreideerzeugnisse sind auch im Supermarktregal deutlich teurer geworden. Indien hat seine Weizenexporte eingestellt hat, um die eigene, 1,3 Milliarden zählende Bevölkerung trotz einer Dürreperiode versorgen zu können. Der Vielvölkerstaat ist nach China der weltweit zweitgrößte Weizenproduzent.

Bei allen Getreidesorten hat Deutschland im Schnitt einen Selbstversorgungsgrad von 88 Prozent. Der fehlende Bedarf wird über Importe aus Polen, der Tschechei und Frankreich abgedeckt. Die Ukraine steht lediglich an zwölfter Stelle der deutschen Getreidelieferländer. Ganz anders sieht das bei der Türkei, Israel, Ägypten oder Tunesien aus, deren Weizeneinfuhren stammen zu über der Hälfte aus Rußland und der Ukraine. Bei Thailand und Indonesien ist die Ukraine Hauptlieferant, bei Südafrika ist es Rußland – was vielleicht die mangelhafte „Sanktionsbereitschaft“ einiger Länder mit erklärt. Und zusätzlich zur Verknappung des Getreides auf dem Weltmarkt steigt auch die Nahrungsmittelnachfrage durch den stetigen Anstieg der Weltbevölkerung. Wetterextreme, die zur Minderung der Ernteerträge führen, spiegeln sich ebenfalls in den hohen Weizenpreisen wider.

Auch Brotroggen, Körnermais, Gerste und Hafer steuern auf die 400-Euro-Marke zu – schlecht für Verbraucher, gut für die deutschen Bauern, könnte man meinen. Doch gestiegene Dieselpreise, unflexible Anbaupläne, teureres Saatgut und höhere Löhne lassen die Gewinnmargen schmelzen. Der größte Kostentreiber für die Landwirte sind die Düngemittel. Der Preis von Kalkammonsalpeter stieg von 200 Euro pro Tonne (2020) auf 1.050 Euro im März dieses Jahres; Diammoniumphosphat kletterte von 300 auf 1.000 Euro.

Ursächlich für die hohen Düngemittelpreise sind der schwache Euro und die Sanktionen gegen Rußland und Weißrußland, die einen Großteil der Rohstoffe liefern. Der Gaspreis macht 80 bis 90 Prozent der Herstellungskosten von Stickstoffdünger aus. Das von einigen Grünen- und CDU-Strategen geforderte vollständige Embargo gegen „Putin-Gas“ könnte die Düngemittelpreise in ungeahnte Höhen schießen lassen und würde 2023 wohl zu einer Unterversorgung mit Düngemitteln in Deutschland führen – und das bedeutet Ernteertragsausfälle, die Selbstversorgung wäre gefährdet.

Frankreich, Nordamerika, Australien oder Argentinien könnten für viel Geld Ersatzlieferanten sein. Doch deren Weizen würde dann in Afrika und Asien fehlen und zu Hunger führen – mit dramatischen Folgen für die Stabilität. Auch die Agrarchemiebranche warnt vor einer Embargo-Eskalation. Die Pflanzenschutzmittelindustrie scheint von der aktuellen Situation zu profitieren. Im Bereich der Herbizide ist ein Umsatzplus von 60 Prozent zu verzeichnen. Der US-Konzern Monsanto, seit 2018 eine Bayer-Tochter, verzeichnete ein Gewinnplus in der Agrarsparte von 50 Prozent, was 3,7 Milliarden Euro entspricht.

250.000 Hektar ökologische Vorrangfläche oder Hungerkrise?

Aber was ist, wenn die diesjährige Ukraine-Ernte kriegsbedingt ausfällt? In den Dürresommern 2018 und 2019 brach die deutsche Getreideproduktion um zehn Prozent ein. Doch derzeit gibt es in Deutschland etwa 250.000 Hektar ökologische Vorrangfläche, auf der theoretisch 1,5 Millionen Tonnen Weizen produziert werden könnten. Dies würde einem Produktionszuwachs von knapp sieben Prozent entsprechen, argumentieren Bauernvertreter. Die EU hat inzwischen temporäre Ausnahmen gewährt. Aus politischen Gründen wurden immer stärkere Anreize für den Ökolandbau geschaffen – doch „Bio“-Bewirtschaftung liefert etwa ein Drittel weniger Erträge auf derselben Fläche.

Hinzu kommt, daß ab 2023 alle Betriebe, die mehr als zehn Hektar bewirtschaften, vier Prozent ihrer Agrarflächen stillegen müssen. Diese Regelung betrifft 98 Prozent der bundesdeutschen Agrarflächen. Das entspricht 650.000 Hektar. Doch der Bundesregierung sind Umweltaspekte wichtiger. Somit drohen eine Verschärfung der Versorgungssituation und ein weiterer Anstieg der Agrarpreise. Die deutschen Landwirte können von den aktuellen Preissteigerungen also nicht profitieren, sondern haben selbst mit Kostenexplosionen zu kämpfen.

Noch stärker dürften die deutschen Verbraucher leiden. Der Großteil der Kostensteigerung wird an sie weitergegeben – der intensive Konkurrenzkampf zwischen Aldi, Edeka, Lidl, Rewe & Co., der die deutschen Lebensmittelpreise im internationalen Vergleich relativ niedrig hielt, ist nun zu einem Preiserhöhungswettbewerb geworden: Zur Verknappung von Getreideprodukten auf dem Weltmarkt ist die künstliche Verknappung aufgrund (geo-)politischer Entscheidungen hinzugekommen.

Aktuelle Getreidepreise: www.agrarmarkt-aktuell.de

Getreidepreise des US-Agrarministeriums: www.ers.usda.gov

Foto: Ein Laib Mischbrot: In den Dürresommern 2018 und 2019 brach die deutsche Getreideproduktion um etwa zehn Prozent ein, doch damals gab es keine zusätzliche künstliche Verknappung aufgrund des Ukraine-Kriegs