© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Ökonomische Freiheit und die Disziplin
Wirtschaftsliteratur: Der Brite Kenneth Dyson bietet einen umfassenden Überblick über konservativ-liberale und ordoliberale Argumente
Erich Weede

Wirtschaftliche Freiheit und Wohlstand können durch Disziplinlosigkeit gefährdet werden. Wenn Unternehmen – oft mit Hilfestellung von Staat und Politik durch Privilegien oder Duldung – dem Wettbewerb entkommen, dann kann Preisdisziplin, Sorgfalt bei der Produktion oder Innovation nachlassen. Wenn Politiker über einen längeren Zeitraum mehr Geld ausgeben, als sie den Bürgern an Steuerlast zumuten (können), dann droht eine Schuldenkrise und Inflation. Marktversagen und Staatsversagen sollten gleichermaßen bedacht werden. Mit dieser Art von Fragen haben sich in Deutschland vor allem die Ordoliberalen beschäftigt. Deren Denken wird im Buch des britischen Politikwissenschaftlers Kenneth Dyson (Cardiff University) ausführlich besprochen.

Nach 1945 war Walter Eucken (Universität Freiburg) wohl der einflußreichste Ordoliberale. Für ihn bestand eine der wichtigsten Staatsaufgaben darin, den Wettbewerb vor Kartellen und Monopolisten zu schützen. Er sollte das Privateigentum und die Vertragsfreiheit gewährleisten, aber gegenüber Sonderinteressen und Wählerstimmungen durchsetzungsfähig sein. Regeln sollten vor politischer Kurzsichtigkeit und Unberechenbarkeit schützen und Externalitäten berücksichtigen. Eine Wirtschaftsverfassung und das Recht sollten Wettbewerbspreise und Haftung der Entscheidungsträger sichern, solide Staatsfinanzen und Preisstabilität ermöglichen. Nach Dyson wird dabei Respekt vor den bildungsbürgerlichen Eliten ebenso vorausgesetzt wie ein Vorrang der Rechte von Eigentümern und Kreditgebern gegenüber denen von Schuldnern und eine Skepsis gegenüber dem Sozialstaat. Eucken verband das mit starken ethischen Vorstellungen.

Es gab zwar eine Ähnlichkeit unter den ordoliberalen Denkern, aber keine Identität der Auffassungen. Nicht alle teilten den protestantischen Hintergrund, nicht alle waren so unbelastet aus dem Dritten Reich hervorgegangen wie Eucken, nicht alle hielten gleichermaßen Distanz zur Parteipolitik, was Kritik an politischen Entscheidungen und sozialstaatliche Abstinenz erleichtert. Inwieweit die Ordoliberalen Ludwig Erhard beeinflußt haben oder zum Wirtschaftswunder beigetragen haben, das ist umstritten. Die Währungsreform, die Unabhängigkeit der Bank deutscher Länder (Vorläufer der Bundesbank), oder Erhards Einstellung zu Konzernen, Großbanken und Wettbewerb ist nach Dyson eher amerikanischem als ordoliberalem Einfluß zu verdanken.

Die Universität Freiburg war lange ordoliberales Zentrum. Dyson unterscheidet drei Phasen: „Freiburg 1“ war von Eucken geprägt, „Freiburg 2“ von Friedrich August von Hayek und „Freiburg 3“ von Viktor Vanberg, der das Denken von James M. Buchanan und der in den USA entstandenen Public-Choice-Schule mitbrachte. Hayek steuerte die Vorstellungen der Österreichischen Schule bei, die dem laisser-faire deutlich zugeneigter waren als die älteren Ordoliberalen. Der Fähigkeit, per Konstruktion von oben die Wettbewerbsordnung zu gestalten, mißtraute er. Mit Vanberg kam zwar wieder ein starker Fokus auf die Wirtschaftsverfassung nach Freiburg, aber die breitere Public-Choice-Schule hat sich intensiver mit Staatsversagen beschäftigt als Dyson zugibt.

Während Dyson kaum einen eindeutigen Einfluß des ordoliberalen Denkens auf die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik sieht, hebt er die ordoliberale Prägung des Selbstbildes von Kartellamt, Bundesbank und der Grundsatzabteilung des Wirtschaftsministeriums hervor. Aber bei der Bundesbank hat seit den 1970er Jahren der Monetarismus Milton Friedmans (University of Chicago) mehr Einfluß auf die Geldpolitik gehabt als die „Freiburger Schule“. Den deutlichsten ordoliberalen Einfluß scheint Dyson bei den Euro-Kritikern und einigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zu sehen, wo die Trennung von Entscheidung und Haftung, die laxe Vertragsauslegung und der Trend zur Transferunion beklagt werden.

Dysons persönliche Kritik am Ordoliberalismus ist dessen thematische Enge. Zu wenig berücksichtigt würden Themen wie die Einkommensverteilung, das Klima oder die Lage der Frauen. Armut und Not sind nach Dyson nicht immer Konsequenz der Entscheidungen der Betroffenen, sondern oft strukturell bedingt. Die Stärke des Buches ist die Breite der ideengeschichtlichen Perspektive. Das Buch zeichnet auf, wer von wem beeinflußt worden ist, wer auf die Antike, die Scholastik, Goethe oder Kant zurückgegriffen hat. Man erfährt, welche Parallelen es zwischen deutschen Ordoliberalen und amerikanischen, britischen, französischen oder italienischen Ökonomen des 20. Jahrhunderts gibt und warum der ordoliberale Einfluß rückläufig ist. Leider setzt sich Dyson nirgendwo ernsthaft mit der Frage auseinander, ob die Wirtschaftsentwicklung für die Gültigkeit oder Wahrheitsnähe dieser oder jener wirtschaftspolitischen Theorie spricht. 






Prof. Dr. Erich Weede lehrte Soziologie an den Universitäten Köln, Bologna und Bonn. Er ist Mitgründer der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft.

Kenneth Dyson: Conservative Liberalism, Ordo-liberalism, and the State – Disciplining Democracy and the Market. Oxford University Press, Oxford 2021, gebunden, 542 Seiten, 110 Pfund