© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

„Es war nicht nur Naivität“
Gazprom-Imperium: Unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges hat Berlin eine Abkehr vollzogen. Doch wie konnte es zu der fatalen Abhängigkeit kommen?
Hinrich Rohbohm

Nun also doch: Entgegen allen zuvor gemachten Ansagen und Beteuerungen unterläuft die Europäische Union ihre eigenen auf den Weg gebrachten Sanktionen gegen das Putin-Regime. Bei ihrem Sondertreffen am 2. Mai bekräftigten die EU-Energieminister, daß keine Gasrechnung in Rubel gezahlt werde. Und noch im vorigen Monat hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) Forderungen nach Gaszahlungen in Rubel abgelehnt. „Verträge basieren auf Dollar und Euro, und deshalb sollten private Unternehmen in Dollar oder Euro zahlen“, hatte Lindner am Rande der Internationalen Frühjahrstagung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank gegenüber dem TV-Sender Bloomberg betont.

Doch die Ankündigungen sind eine Sache, die politischen Taten eine andere. Denn die am 17. Mai von der EU-Kommission aktualisierten Leitlinien zur Bezahlung russischer Gaslieferungen ermöglichen den Unternehmen in den Mitgliedstaaten nun plötzlich, das Gas auch dann zu kaufen, wenn es später in Rubel umgerechnet wird. Schnell erklärt sich dann auch Italiens größter Gasversorger, der Energiekonzern Eni bereit, ein Rubelkonto bei der Gazprombank zu eröffnen. Deutsche Firmen könnten bald folgen, wodurch die Sanktionen unterlaufen werden.

Zu groß ist die Abhängigkeit zahlreicher EU-Mitgliedsländer von Gazprom geworden. Jenem zu 50,2 Prozent in russischem Staatsbesitz befindlichen Energiegiganten, den der russische Präsident Wladimir Putin über lange Zeit weitestgehend unbehelligt als Waffe im Rahmen einer zivilen Kriegsführung gegen den Westen einsetzen konnte.

Der nun erfolgende Kniefall des Eni-Konzerns ist ein Resultat davon. Denn bis kurz vor Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar hatte sich der russische Anteil italienischer Gasimporte auf 40 Prozent gesteigert. Angesichts der Tatsache, daß das Land zu 95 Prozent auf Gasimporte angewiesen ist, ein Dilemma. Eines, in dem sich längst auch unser Land befindet. Im Jahr 2020 stellte Deutschland laut dem Energiejahresbericht von BP den mit Abstand größten Einzelkunden für russische Erdgasexporte dar. Der russische Anteil bei den Gasimporten lag 2020 bei 55,2 Prozent (JF 2/22).

Wie konnte es dazu kommen? Wieso haben deutsche Politiker es zugelassen, sich derart in die Abhängigkeit eines autoritären, waffenstarrenden Regimes zu begeben, das bedrohlich nahe vor der Haustür der EU liegt? „Es war nicht nur Naivität, wie viele meiner Kollegen jetzt beteuern“, schildert der JF ein CDU-Landtagsabgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern. Das Bundesland war in bezug auf die deutschen Verbindungen zum Gazprom-Konzern besonders in den Fokus gerückt. Dessen Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) hatte mit Hilfe einer im vorigen Jahr gegründeten „Klimastiftung“ versucht, die US-Sanktionen bezüglich des Baues der Gaspipeline Nord Stream 2 zu umgehen.

„Alle wollten Nord Stream 2, das gehört zur Ehrlichkeit dazu“

„Jedem war klar, was da gespielt wurde und mit wem man sich da einließ“, läßt der Unions-Parlamentarier keine Zweifel darüber aufkommen, daß bei der Stiftung nicht das Land, sondern Gazprom und damit Rußland die Fäden zog. Dessen Tochtergesellschaft Nord Stream 2 stellte mit 20 Millionen Euro den größten Teil des Stiftungskapitals zur Verfügung, das Land Mecklenburg-Vorpommern lediglich 200.000 Euro. „Natürlich hängt besonders die SPD da ganz tief in der Sache drin.“ Aber: „Nord Stream 2 wollten ja schon vor der Stiftungsgründung fast alle Parteien, das gehört zur Ehrlichkeit dazu.“

Die Gründe dafür seien unterschiedlich ausgefallen. „Manchen Kollegen ging es einfach nur um Arbeitsplätze, Infrastruktur und günstige Energie.“ Andere hingegen hätten „weitaus intensivere Beziehungen“ zu Gazprom unterhalten. Wie etwa Schwesigs Vorgänger Erwin Sellering (SPD), der als Vorstandsvorsitzender der Stiftung fungiert.

Rund um Gazprom und dessen Tochtergesellschaften und Kooperationspartner hatte sich im Laufe der Jahre ein regelrechtes Netzwerk an SPD-Politikern gebildet, die den Interessen des Megakonzerns und Rußlands Politik gute Dienste erwiesen hatten. Im Zentrum des Netzwerks: Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der am 8. September 2005 noch als Regierungschef das Pipeline-Projekt Nord Stream 1 auf den Weg brachte, um dann bereits ab dem 9. Dezember 2005 als Aufsichtsratsvorsitzender der Gazprom-Tochtergesellschaft zu fungieren. Am 29. September 2017 wurde er zudem Aufsichtsratschef des russischen Mineralölriesenkonzerns Rosneft, ein Sitz im Aufsichtsrat des Gazprom-Mutterkonzerns soll noch folgen. 

Nachdem das EU-Parlament jetzt darauf drängt, Schröder auf die EU-Sanktionsliste gegen russische Oligarchen zu nehmen, kündigte er am Freitag an, den Rosneft-Aufsichtsrat zu verlassen.

Als damaliger Kanzler und SPD-Parteichef galt und gilt der heute 78jährige nicht nur als enger Freund Wladimir Putins, sondern auch als Ziehvater zahlreicher prominenter sozialdemokratischer Politiker, die über lange Zeit ihre schützende Hand über die russischen Pipeline-Projekte legten. Der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begann seine politische Karriere 1991 einst als Referent in der niedersächsischen Staatskanzlei von Hannover. Sein Chef: der damalige Ministerpräsident Gerhard Schröder, der ihn später erst zum Büroleiter, dann zum Staatssekretär und schließlich zum Minister beförderte.

Steinmeier war 2010 auch bei einem vertraulichen Treffen zwischen Wladimir Putin, Gerhard Schröder und dem Nord-Stream-Geschäftsführer und einstigen hauptamtlichen Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit Matthias Warnig („Offizier im besonderen Einsatz“) mit von der Partie. Als Außenminister und später als Bundespräsident hatte er stets um Rücksichtnahme und Verständnis für Rußland geworben und sich für die Gaspipeline Nord Stream 2 stark gemacht. 

Als 2008 Rußland in Georgien einfiel und der französische Außenminister Sanktionen forderte, entgegnete Steinmeier: „Auch in dieser ernsten politischen Situation gilt es einen Rest von Vernunft walten zu lassen. Wir werden über den Tag hinaus Rußland als Nachbarn behalten, und es ist in unserem eigenen Interesse, zu einem normalen Verhältnis zurückzukehren.“ Und als Bundespräsident sagte er im Februar vorigen Jahres in bezug auf die Fertigstellung von Nord Stream 2: „Nach der nachhaltigen Verschlechterung der Beziehungen in den vergangenen Jahren sind die Energiebeziehungen fast die letzte Brücke zwischen Rußland und Europa. Beide Seiten müssen sich Gedanken machen, ob man diese Brücke vollständig und ersatzlos abbricht. Ich finde: Brücken abzubrechen ist kein Zeichen von Stärke.“

Ein weiterer Ziehsohn Schröders fungiert heute als Chef der Atlantik-Brücke. Doch selbst in dieser Funktion spielte Sigmar Gabriel (SPD) Warnungen vor russischem Gas als Waffe herunter. „Selbst in finstersten Zeiten des Kalten Krieges hat Rußland seine Verträge eingehalten“, wiederholte er noch bis kurz vor Ausbruch des Ukraine-Krieges seine bereits 2017 als Außenminister getätigten Beschwichtigungen in TV-Talkshows.

Den heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz hatte der damalige SPD-Parteichef Schröder 2002 zu seinem Generalsekretär gemacht. Als Bundesfinanzminister war auch er über die Pläne und Absichten der „Klimastiftung“ im Bilde. Internen Dokumenten der Schweriner Staatskanzlei zufolge setzte Manuela Schwesig ihn und die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits vor der Gründung der Stiftung in Kenntnis. Kritik oder Widerstand: von beiden Fehlanzeige. Nur äußerst zögerlich und unter Druck des Auslands und der Koalitionspartner änderte Scholz nach Rußlands Angriff auf die Ukraine seinen Kurs, rief die „Zeitenwende“ aus, deren mangelnde Umsetzung derzeit ebenfalls dem Kanzleramt von CDU, FDP und Grünen vorgeworfen wird.

Noch weitere prominente Sozialdemokraten mischten bei Gazprom mit. Etwa Hamburgs Ex-Bürgermeister Henning Voscherau. Gazprom hatte ihn 2012 zum Aufsichtsratsvorsitzenden des South-Stream-Projektes vorgeschlagen, dessen Pipeline Gas durch das Schwarze Meer nach Südeuropa befördert. Sein Bruder Eggert Voscherau war bis 2008 Vizevorstandschef von BASF, einem engen Kooperationspartner von Gazprom.

Wenig überraschend ist es daher, daß gerade von BASF immer wieder Warnungen vor einer Zerstörung unseres Wohlstands kommen, sollte Deutschland die russischen Gasimporte stoppen. Eine solche Abhängigkeit hatte insbesondere Angela Merkel (CDU) stets bestritten, um gleichzeitig gegen den Widerstand der USA und der EU Nord Stream 2 auf den Weg zu bringen.

Lieferketten wichtiger Bauteile für Solar und Wind kontrolliert China

„Es gab nicht nur Druck aus der Schweriner Staatskanzlei. Auch das Kanzleramt machte uns Dampf“, erinnert sich der CDU-Landtagsabgeordnete an fraktionsinterne Diskussionen. Letztlich habe auch die CDU Nord Stream 2 mit verteidigt. Und sitzt auch bei der Klimastiftung in Gestalt des ehemaligen CDU-Bundes- und Europaabgeordneten Werner Kuhn als Vize-Vorstandschef mit im Boot. Ebenso wie der ehemalige dänische Staatssekretär und Ex-Gazprom-Manager Kurt Bligaard Pedersen, der als Geschäftsführer der Stiftung fungiert.

„In Mecklenburg-Vorpommern herrschte in bezug auf Gazprom, Nord Stream und die Pipeline lange ein breiter Konsens, auch AfD und Linke standen dem positiv gegenüber.“ Kritik sei lediglich von den Grünen gekommen, die derzeit von der „Zeitenwende“ am meisten zu profitieren scheinen.

Tatsächlich waren es neben Angela Merkel jedoch vor allem die Grünen, die den Ausstieg aus Kohle und Kernkraft forcierten und Gas als Übergangs-Energie hin zur ausschließlichen Nutzung alternativer Energien aus Sonne und Wind priesen. Und damit ebenfalls den Weg in die Abhängigkeit von russischem Gas mit förderten.

Zudem sorgen sie mit der Fokussierung auf Wind- und Sonnenenergie für neue Abhängigkeiten. Statt von Rußland droht Deutschland lediglich von einem anderen totalitären Regime erpreßt zu werden: China. Denn die Lieferketten wichtiger Bauteile für Solaranlagen und Windturbinen werden von der kommunistischen Volksrepublik kontrolliert. Daß Peking kaum weniger zimperlich agiert, um Wirtschaftsgüter als Waffe einzusetzen und alles andere als eine Alternative ist, bekam jüngst der EU-Mitgliedsstaat Litauen zu spüren, weil dieser eine taiwanische Vertretung in seinem Land gestattete. Die Folge: China stoppte kurzerhand die Einfuhr litauischer Produkte. Ein Vorgang, der auch Auswirkungen auf deutsche Lieferketten mit sich bringt. Bei Konflikten mit Deutschland oder der EU könnte China die Ausfuhr von Solarzellen stoppen oder Windturbinenbauer schlicht nicht mehr mit dringend benötigten Seltenen Erden beliefern.

Wie Rußland verfügt China über einen international agierenden, eng an das Regime angebundenen Mega-Konzern, der jederzeit als Waffe gegen Deutschland eingesetzt werden kann: Huawei.

Lesen Sie in der kommenden Ausgabe in Teil 2 dieser Reportage mehr über den Einsatz von Gazprom und Huawei als Waffe gegen Deutschland und die EU und wie deutsche Politiker am Aufbau dieser Waffe beteiligt waren.

Foto: Techniker am größten Erdgasspeicher Westeuropas im niedersächsischen Rehden: Systemrelevante Technik im Eigentum von Gazprom Germania jetzt unter Treuhand der Bundesnetzagentur gestellt