© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Botho Strauß als Vorläufer des Querdenker-Milieus
Anschwellender Popgesang
(ob)

Ausgenommen vielleicht Ernst Noltes FAZ-Artikel vom 6. Juni 1986 zur „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, hat wohl kein anderer Feuilletontext ein so nachhaltiges Echo ausgelöst wie der im Spiegel vom 8. Februar 1993 publizierte Essay „Anschwellender Bocksgesang“ von Botho Strauß. Der damals noch für die Frankfurter Rundschau, heute für das Zeit-Feuilleton schreibende Thomas Assheuer gab den hysterischen Ton vor, mit dem das von Strauß attackierte „Tutti-Frutti der Medien“ auf dieses „unerhörte Dokument“ dann phobisch reagierte. Solche pawlowschen Abwehrreflexe sind zwar auch bald 30 Jahre nach dem Erscheinen von Strauß’ kulturkritischer  Philippika noch jederzeit abrufbar, aber intensiv debattiert wird über den Text mittlerweile nur noch aus kühler literaturwissenschaftlicher Distanz. So hat Jürgen Brokoff 2021 eine so präzise wie unaufgeregte Analyse über „Literaturstreit und Bocksgesang“ vorgelegt, die so viel weitere „Haken und Ösen“ des Essays aufzeigt, daß es unmöglich wird, Strauß auf eine klare Botschaft festzulegen oder den Autor kurzerhand als „rechts“ einzukasteln. Dadurch ermutigt, verficht der Literaturhistoriker Steffen Martus (HU Berlin) jetzt sogar die These, der Text sei gar nicht politisch zu verstehen. Es handle sich vielmehr um einen Beitrag zu jener Popkultur, in der sich Politik und Literatur der 1990er Jahre neu orientierten. Der Anspruch auf ein „gutes Gefühl“, wie ihn Strauß geltend mache, bilde seitdem ein solides Fundament für politische Fundamentalopposition. Insofern sei Strauß ein Vorläufer aktueller „Querdenker“-Bewegungen, in denen sich die „Irgendwie-grundsätzlich-schlecht-Fühlenden“ sammeln (Merkur, 5/2022). 


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