© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Das Ich und der Eigen-Sinn
Literatur: Vor hundert Jahren beendete Hermann Hesse seine indische Erzählung „Siddhartha“
Regina Bärthel

Der Autor Hermann Hesse (1877–1962) ist bekannt für sein Mißtrauen gegen normierte Lebensweisen: Der Mensch sei nicht „frei geboren“, sondern auf ein „ureigenes Wesen angelegt, dem er in seinem Wirken Gestalt zu verleihen, dem er zu dienen hat“. Dieser Eigen-Sinn als unbedingte Treue zu sich selbst muß zwangsläufig in Konflikt mit der Anpassung an die Gesellschaft und ihre als verbindlich erklärten Wahrheiten geraten – ein Thema, das Hesses Werk zeitlebens durchzog.

Insbesondere wendete sich Hesse gegen die „Pietisterei“, die moralische Verschärfung des Religiösen, die den Menschen in enge Regeln zwingt. Hesse selbst kannte sie aus seinem Elternhaus, das vom pietistischen Protestantismus geprägt war. Durch die Missionstätigkeit der Familie – Großeltern wie Eltern waren Missionare in Indien gewesen, Vater Johannes Hesse leitete einen Missionsverlag im württembergischen Calw – erlebte der werdende Schriftsteller jedoch auch einen weltbürgerlichen Geist, der die christliche Vorstellungswelt mit Kulturen aus Indien, China und Japan konterkarierte. Hermann Hesse selbst begann früh, sich mit Religionen und Kulturen aus Fernost zu beschäftigen und unternahm 1911 eine Reise nach Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien.

„Ich bin seit vielen Jahren davon überzeugt, daß der europäische Geist im Niedergang steht und der Heimkehr zu seinen asiatischen Quellen bedarf“, schrieb Hesse im Sommer 1919, um im folgenden Winter die Erzählung „Siddhartha“ zu beginnen.

Diese in mythenhaftem Ton verfaßte, zweiteilige Erzählung spielt im Indien des 6. Jahrhunderts vor Christus, zur Zeit des historischen Buddha. Hesse beschreibt den Weg eines Sinnsuchers hinaus aus einem vorgeprägten Leben, hinein in das Chaos völliger Ungebundenheit – um schließlich zu einer eigenen, selbst erfahrenen Ordnung zu gelangen: „Suchen heißt: ein Ziel haben. Finden aber heißt: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben“, erkennt er zuletzt.

Hesse fand einen Ausweg aus seinem Dilemma

Der junge Siddhartha ist schön und liebenswert, klug und belesen. Als Sohn eines Brahmanen, der obersten Kaste des Hinduismus, ist sein Weg zum Gelehrten und Priester vorgezeichnet, doch er ist skeptisch gegenüber jeder Theorie. Weder die Lehren der Samanas – wandernde Bettelmönche, die Askese und Überwindung des Leibes lehren – noch des Gotama Buddha, des Erleuchteten, können Siddhartha überzeugen: Nicht das auf abstrakten Worten basierende Wissen könne zu „Atman“, dem „All-Einen“ und absoluten, ewigen Selbst, führen, sondern nur persönliches Erleben. Siddhartha zieht weiter, gänzlich allein und auf sich gestellt.

Mit der Ablehnung gängiger Lebensweisen hatte sich Siddhartha im ersten Teil der „Indischen Erzählung“ zum Außenseiter gemacht. Eine Situation, die Hermann Hesse gut aus eigener Erfahrung kannte: Auch er hatte sich aus einem von moralischen Zwängen und „Triebunterdrückung“ geprägten Elternhaus gelöst. Seit 1919 lebte er zudem getrennt von Frau und Kindern – mit der Konsequenz von Schuldgefühlen und Einsamkeit, aber auch von Freiheit. Die wollte nun gelebt werden. Kein leichtes Unterfangen, war doch auch Hesse von den Wertvorstellungen seiner Zeit geprägt. Der zweite Teil der Erzählung sollte von Siddhartha als erleuchtetem „Bezwinger“ des Widerspruchs zwischen Individuum und Gesellschaft handeln –  ein Zustand, den Hesse noch nicht erreicht hatte. Hesse fiel in eine ausgeprägte Schreibkrise. „Siddhartha“ ruhte.

Nicht aber sein Autor. Hesse, der bereits zuvor psychoanalytische Sitzungen bei einem Schüler C. G. Jungs besucht hatte, konsultierte diesen im Frühjahr 1921 selbst und fand hier einen Ausweg aus seinem Dilemma. Für Jung sind menschliche Triebe – im Gegensatz zu Freud – keine „archaischen Überreste“, sondern urmenschliche Prägungen, die sich als „Archetypen“ über die Evolution hinweg erhalten haben. Statt sich von ihnen zu befreien, müßten sie in die Psyche integriert werden – und zwar in einem „Fühldenken“, für das Jung die indische Kultur und Religion als Vorbild diente. Die Auseinandersetzungen mit diesen Schattenseiten der eigenen Persönlichkeit, das Erkennen, daß nicht ihre Überwindung, sondern vielmehr ihre Integration zur Ausformung der eigenen Persönlichkeit führt, inspirierten Hesse ebenso wie die Gespräche mit seinem Cousin, dem Japanologen Wilhelm Gundert.

Ende 1921 hatte Hesse den Ansatz zum Beenden des zweiten Teils der Erzählung gefunden: Die gesamte Welt, ihre positiven wie negativen Seiten, müßten ausgeschöpft werden, um zum Eigentlichen, zu einer umfassenden Akzeptanz, ja Liebe zu gelangen.

Nun wendet sich Siddhartha also der Welt und dem Leben zu, wird – dank der Kurtisane Kamala – sexuell wie als Kaufmann erfolgreich. Doch bleibt er innerlich distanziert, lieblos, fühlt das Leben an sich vorbeigehen. Er gibt sich ungezähmten Leidenschaften hin; er trinkt, hurt, verfällt dem Glücksspiel und der Habgier. Doch der ausschweifende Hedonismus entfernt den Suchenden nur weiter von sich selbst. Angeekelt entflieht Siddhartha erneut seinem Leben. Kamala, von deren Schwangerschaft er nichts weiß, bleibt zurück.

Verzweifelt will Siddhartha sich in einem Fluß ertränken – doch in der größten Not sinkt er in einen tiefen Schlaf und träumt von seiner Wiedergeburt. Bei einem alten Fährmann lernt er, auf den rettenden Fluß zu hören, der stetigen Wandel und zugleich die Zeitlosigkeit einer ewigen Gegenwart symbolisiert. Siddhartha fühlt sich nun „der Einheit zugehörig“: „Nichts war, nichts wird sein; alles hat Wesen und Gegenwart.“ 

Ein letzter Schritt aber muß noch vollzogen werden: Nach Kamalas Tod nimmt Siddhartha den gemeinsamen, ihm gegenüber renitenten Sohn zu sich. Die Vaterschaft lehrt ihn schlußendlich die umfassende Liebe und mit ihr auch den Schmerz des Loslassens: „In dieser Stunde hörte Siddhartha auf zu kämpfen, hörte auf zu leiden.“ 

Siddharthas Weg führt vom Geist über die Natur zur Seele und vereint damit Gedanken aus Buddhismus, Christentum und westlichem Individualismus. Er hat die Vollendung erreicht – nicht durch die Abkehr vom Ich, sondern durch dessen radikale Verwirklichung. Dem Vorwurf, die Suche nach dem Ich sei reiner Egoismus, hielt Hesse entgegen: „Wer jenes echte Ich sucht, der sucht zugleich die Norm alles Lebens, denn dies innerste Ich ist bei allen Menschen gleich, es ist Gott, es ist der ‘Sinn’.“

Offenbar kamen Hesses Erkenntnisse für die Leser seiner Zeit ein wenig zu früh; das Buch wurde – ganz im Gegenteil zum Vorgänger „Demian“ – nur wenig verkauft. Erst in den 1960er Jahren entdeckte die amerikanische Flower-Power-Generation es wieder, spürte in Hesses radikaler Subjektivität, seinem Protest gegen autoritäres Verhalten und normiertes Wissen eine besondere Authentizität: „Der Einzelne setzt seinen Eigen-Sinn gegen den Herden-Sinn“, so Heimo Schwilk in seiner 2012 erschienenen großen Hesse-Biographie „Das Leben des Glasperlenspielers“.

Könnte es nun an der Zeit sein, Hesses „Sid-dhartha“ erneut zu lesen? Durchaus, aber auch dabei sollte der Rat des Autors befolgt werden: „Man darf sich nie auf eine Wahrheit versteifen, auch nicht auf die eines Buches, denn das Suchen kann wohl gelernt werden, das Finden nicht.“

Hermann Hesse: Siddhartha. Suhrkamp, Berlin, broschiert, 128 Seiten, 8 Euro