© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Man sitzt an einem lauen Maienabend harmlos in einem Pariser Restaurant, da kommt plötzlich ein Trupp junger Männer vorbei. „Action française“ sagt einer, und dann ertönt der alte Kampfgesang der Jugendorganisation Camelots du Roi: „Es leben die Gassenjungen des Königs, meine Mutter / Es leben die Gassenjungen des Königs / Das sind die Leute, die auf die Gesetze pfeifen / Es leben die Gassenjungen des Königs! / Und es lebe der König, nieder mit der Republik! / Und es lebe der König, Frankreich marschiert direkt darauf zu!“

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Henri Nannens NS-Vergangenheit ist seit sechzig Jahren ein offenes Geheimnis. Jeder konnte wissen, daß Nannen, der einflußreiche Gründer und Chef der Illustrierten Stern, seine journalistischen Fähigkeiten auch der Abteilung „Südstern“ der Waffen-SS-Standarte „Kurt Eggers“ zur Verfügung gestellt hatte. Bei Lebzeiten schadeten ihm die braunen Phasen seiner Biographie so wenig wie Josef Müller-Marein (1957–1968 Chefredakteur der Zeit) oder Werner Höfer (1953–1987 Moderator der außerordentlich einflußreichen Hörfunk- beziehungsweise Fernsehsendung „Internationaler Frühschoppen“). Was nichts mit Unbußfertigkeit der westdeutschen Öffentlichkeit und deren Bereitschaft zu tun hatte, „alte Nazis“ zu dulden, sondern mit der Witterung der genannten Herren für die neuen Erfordernisse. Sie blieben natürlich erpreßbar, aber wichtiger war, daß sie – frischbekehrte Vorzeige-Liberale – den Linken als Türöffner in den Medien dienten, deshalb geschont wurden und die eigene Vergangenheit nicht bewältigen mußten, weil sie die anderen zu permanenter Bewältigung anhielten.

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Bei Verspätung von Fernzügen hat man es regelmäßig mit Phantom-Schaffnern zu tun. Entweder machen sich die Angestellten der DB unsichtbar, um den Wutausbrüchen der Passagiere oder ständigen Nachfragen zu entgehen, oder sie schweben ätherisch durch die Gänge, Blickkontakt meidend und auf jede Fahrkartenkontrolle verzichtend.

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Sollte sich bewahrheiten, daß russische Truppen in Melitopol antike Schätze, vor allem goldene Artefakte der Skythen, gestohlen haben, wird man vielleicht nicht mehr so verständnisvoll über die Beutezüge der Roten Armee durch deutsche Museen und Sammlungen am Ende des Zweiten Weltkriegs urteilen.

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Zwei tieferliegende Ursachen für die Stabilität der sozialdemokratischen „Rußland-Connection“ kommen nie zur Sprache: die bleibende Grundsympathie für das sowjetische Experiment, vor allem auf dem linken Flügel der SPD, aber nicht nur da, und die moralpolitische Überwölbung der „Neuen Ostpolitik“, deren rationaler Impuls nach und nach aufgegeben wurde, um Trauerarbeit und sentimentalen Vorstellungen von „Versöhnung“ Platz zu machen, mit deren Hilfe man ganz nebenbei Stalins „Vernichtungskrieg“ (Joachim Hoffmann) gegen Deutschland vergessen machen und die eigene moralische Suprematie absichern konnte.

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Wenn es um Heimat geht, wird häufig Herder mit der Formulierung zitiert: „Heimat ist da, wo ich mich nicht erklären muß.“ Das heißt, Heimat ist da, wo ich heimisch bin, mich zu Hause fühle, wo man meine Sprache spricht, die Menschen mir ähneln, die Speisen schätzen, die ich schätze, die Geschichten kennen, die ich kenne, die Sitten befolgen, die ich befolge. Da gibt es nichts „positiv“ umzudeuten, ganz gleich, was die Frau Bundesinnenministerin meint. Heimat versteht sich entweder von selbst oder ist keine.

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Im ersten Buch der Chronik (18.4) heißt es, daß König David nach einem Sieg über die Philister eine große Zahl feindlicher Krieger gefangennahm, außerdem Streitwagen und Pferde erbeutete, und daß er die Pferde zum großen Teil „lähmen“ ließ. Das geschah offenbar, indem man ihnen die Sehnen der Hinterbeine durchtrennte. Ein Vorgehen, das sich daraus erklärt, daß die Israeliten mit Pferden nicht umzugehen wußten. Als Reit- und Zugtiere verwendeten sie in der Regel Esel oder Maultiere. Letztere waren den Höhergestellten vorbehalten, was mit dem außerordentlichen Wert der Tiere zusammenhing. Der erklärte sich aus der Unfruchtbarkeit dieser Kreuzung von Pferdestute und Eselhengst. Ein Zusammenhang, der nach neueren Forschungen auch die Kostbarkeit jener „kunga“ erklärt, die seit dem 5. vorchristlichen Jahrtausend in Mesopotamien durch die Verbindung von Wildeselhengsten mit domestizierten Eselstuten gezüchtet wurden. Sie vereinten die Kraft – und tendenziell die Aggressivität –des Vaters mit der Geduld und Führbarkeit der Mutter. Wegen ihrer Sterilität wurden die „kunga“ zu immensen Preisen gegen Gold gehandelt und erst seit dem 4. vorchristlichen Jahrtausend allmählich durch das Pferd verdrängt, das sich in der Regel problemlos fortpflanzte. Eine Entwicklung, die Israel verzögert erreichte, wenngleich es der eingangs erwähnte Passus berichtet, daß David einhundert der Pferde „für sich behielt“. In seiner Zeit als Vasall der Philister hatte er wahrscheinlich Reiten und Fahren mit den Tieren erlernt und ihren überragenden militärischen Wert begriffen.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 10. Juni in der JF-Ausgabe 24/22.