© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

„Ich bin wütend“
Literatur: Aus dem Nachlaß der Lyrikerin Sarah Kirsch ist jetzt ihr Tagebuch aus der Wendezeit 1989/90 veröffentlicht worden
Thorsten Hinz

In Zeiten, in denen das Zeitgeschehen die Zeitgenossen unter sich zu begraben und zugleich von innen aufzufressen droht, liest sich das poetische Werk von Sarah Kirsch wie ein Modell erfolgreicher Gegenwartsbewältigung. Als Beispiel, wie „das politische Problem (…) durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert“ (Friedrich Schiller).

Ihr „Tagebuch aus der Wendezeit“, den Jahren 1989/90, ist die neueste Publikation aus dem Nachlaß der 2013 verstorbenen Dichterin. Der Herausgeber, der Sohn Moritz Kirsch, hat ihm den Titel „Ich will nicht mehr höflich sein“ gegeben. Er klingt im Vergleich zu den Vorgängerbänden „Krähengeschwätz“ (1985/87), „Märzveilchen“ (2001/02) und „Juninovember“ (2002/03) direkter, fast plakativ und deutet an, daß die Tonlage der Eintragungen sich von den früheren unterscheidet.

Sarah Kirsch war vor allem Lyrikerin, auch ihre Prosa ist von Lyrismen durchzogen. 1935 in Limlingerode geboren und in Halberstadt aufgewachsen, gehörte sie einer Generation von Künstlern an, die zunächst große Erwartungen und Hoffnungen mit der DDR verband, sich aber bald an Mauern aller Art wund rieb. Das DDR-Schriftsteller-Lexikon 1974 teilte mit, Kirschs Gedichte würden „Impressionen aus privatester Lebenssphäre zu welthistorischer Dimension weiten“. Das war nicht falsch, aber nur die Hälfte der Wahrheit. Kirsch ließ in ihrer Lyrik auch das große welthistorische Pathos auf seinen banalen Kern schrumpfen.

Ihr Gedicht „Schwarze Bohnen“ entstand 1968: „Nachmittags nehm ich ein Buch in die Hand / Nachmittags lege ich ein Buch aus der Hand / Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg / Nachmittags vergesse ich jedweden Krieg ...“ Die Zeit läuft leer, Erwartungen bleiben unerfüllt. Das lyrische Ich mahlt Kaffeebohnen. Die letzte Gedichtzeile lautet: „Singe bin stumm“.

Sie durfte 1977 mit ihrem Sohn nach West-Berlin übersiedeln

Auf dem DDR-Schriftstellerkongreß 1969 wurde das Gedicht „wegen seines Mangels an positiver Perspektive“ angeprangert. Jeder kenne die depressive Stimmung, aber der sozialistische Künstler habe auch ihre Überwindung zu zeigen. Dasselbe Gedicht wurde auf dem Schriftstellerkongreß vier Jahre später, in einer kurzen Phase kulturpolitischer Liberalisierung, ausdrücklich als ein Beispiel für die „Vielfalt der Poesie“ in der DDR hervorgehoben.

Auf die Dauer konnten die Wechselbäder nicht gutgehen. Im November 1976 unterzeichnete Sarah Kirsch die Protestnote gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Daraufhin wurde sie aus der SED und dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Der einsetzende Psychoterror führte bei ihr zu klaustrophobischen Zuständen: „Wenn ich in einem Haus bin, das keine Tür hat / Geh ich aus dem Fenster.“ 1977 verließ sie mit ihrem Sohn die DDR, zunächst nach West-Berlin. Sie war Stipendiatin der Villa Massimo in Rom, reiste nach Frankreich. Der 1980 veröffentlichte Band „La Pagerie“ ist ein Dokument innerer und äußerer Befreiung: „Jetzt besitze ich einen fröhlicheren Paß, ein rechtes Sesam-öffne-dich-Blättchen ohne die Angst das seh ich nicht wieder.“

Die DDR war ihr nun fürs erste verschlossen; Phantasie und Erinnerung mußten ihr ersetzen, was sie zurückgelassen hatte: „ich kann in Palermo sitzen / und doch durch Mecklenburgs Felder gehn“. Im Gedichtzyklus „Reisezehrung“ hat sie auf dem streng reglementierten Transitweg zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin „(d)ie Augen voll märkischer Landschaft“, jedoch: „Wir sollen den Weg nicht verlassen / Keine Blumen abpflücken, den müden / Wanderer im Wagen nicht aufnehmen, sonst / Schnappt uns der Wolf“.

Einen Schlüssel zu ihrem Selbstverständnis liefert das rätselhafte Märchen „Allerleirauh“ aus der Sammlung der Brüder Grimm, dessen Titel Sarah Kirsch für ein Gedicht und eine Erzählung (hier: „Allerlei-Rauh“) übernommen hat. Dem König stirbt die geliebte Frau, die ihm kurz vor ihrem Tod das Versprechen abnimmt, eine zweite Ehe nur mit einer einzugehen, die ihr ähnelt. Der Blick des Königs fällt mit den Jahren auf seine Tochter. Die entflieht der väterlichen Besitzergreifung. In einen Flickenpelz gehüllt, verbirgt sie ihre Identität und gibt gleichzeitig versteckte Hinweise darauf, bis sie von einem königlichen Bräutigam erlöst wird.

Im schleswig-holsteinischen Dorf Tielenhemme bezog sie Anfang der achtziger Jahre ein altes Schulhaus auf dem Deich an der Eider. Hier, inmitten herber Natur, rückte sie ihrem Vorbild, der Naturmagierin Annette von Droste-Hülshoff, noch ein Stückchen näher. „Der Droste würde ich gern das Wasser reichen“, heißt ein Gedicht aus dem Jahr 1973. Tatsächlich feierte der einflußreiche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sie als „der Droste jüngere Schwester“. Damit war sie im bundesdeutschen Literaturbetrieb etabliert.

Die Wende-Notate sind epischer und emotionaler

Sarah Kirsch ließ sich deswegen in keine falschen Loyalitäten verstricken. Im Wende-Tagebuch kritisierte sie die Scharfrichter-Pose des unmöglichen „Marcello“, der doch „bloßn Kritiker ist was er gerne vergißt“. Und in „Märzveilchen“ notierte sie unter dem Datum des „9. Januar 2002, Mistwoch“ anläßlich eines Artikels in der FAZ: „Habe nun ach! Die Interpretazione zu meine Schwarze Bohnen von M. R.-Ranicki zugeschickt bekommen, alles ganz wacker aber nicht gut. Er ist dermaßen ein Realist, daß ihm die höhere Witterung abgeht. Wo es bei mir heißt ‘Nachmittags setze ich den zermahlnen  Kaffee / Rückwärts zusammen schöne / Schwarze Bohnen’ da schreibt er, ‘was sie möchte, ist unmöglich, zermahlene Bohnen lassen sich nicht wieder zusammensetzen...’ Das zeugt nicht von Kompetenz! Ich setze sie zusammen, und zwar rückwärts, basta. Ich kann mich nur wundern!“

Dieser Ton ist typisch für ihre pointierte Tagebuch-Prosa: Saloppe, dabei paßgenaue Formulierungen, eine eigenwillige Syntax und Zeichensetzung, ironisierende Wortschöpfungen. Genauso lauten ihre Kommentare zur Politik. Am 10. März („10. Nerz, Mohntach“) 2003 stand der zweite Irak-Krieg unmittelbar bevor. In der britischen Regierungspartei rumorte es, weil Labour-Premier Tony Blair sich dem Kriegskurs von US-Präsident George W. Bush bedingungslos angeschlossen hatte. „In England sind 60 Tausend Menschen aus der Labour Partei ausgetreten wegen Tonis absolute Unterwerfung. Am Nachmittag 11 Grad, das fühlt sich sehr gut an. Die Schneeglöckchen reißen die Mäuler uff ...“ Sie bewältigt den realen Irrsinn, indem sie ihn durch Sprache ästhetisiert und in den Rahmen einer anderen, höheren Ordnung – hier: der Natur und des Kreislaufes der Jahreszeiten – stellt.

Die Souveränität und Gelassenheit sind Sarah Kirsch nicht zugeflogen. Wieviel Mühe, Strenge, Selbstdisziplin ihr vorausgingen, erahnt man bei der Lektüre ihrer „Wendezeit“-Notate. Sie sind epischer, weniger pointiert, emotionaler und – unbearbeitet. Es sind die Monate, als die DDR – das „Ländchen“ geheißen – kollabiert und massenhaft „Flichtlinge flichten“. Die Flut der Ereignisse tritt über den Eiderdeich und hebt an zu rauschen, daß Sarah Kirsch die Ohren klingen. Sie hat das Gefühl, ein Journal „im Nichtmehr und Nochnicht“ zu führen. Am 27. Dezember notiert sie sogar, daß ihr von den „Tagesschau“-Nachrichten „physisch schlecht“ wird. 

Schwärmer von einem erneuerten Sozialismus nennt sie „sentimentale Kühe“. Ihr Zorn trifft „(Stephan) Hermlin, das alte Weib“, aber auch ihre Lebensfreundin Christa Wolf, die für den Erhalt der DDR eintritt und „eigentlich Schaf“ heißen müsse. Ihre allmähliche Entfremdung hatte sich in der 1988 veröffentlichten Erzählung „Allerlei-Rauh“ angedeutet, einem Parallelwerk zu Wolfs „Sommerstück“. Über die Hoffnungen auf die Erneuerung des Sozialismus durch Michail Gorbatschow konnte sie nur den Kopf schütteln: „(D)och es schien mir unfaßbar, daß die Einwohner wieder bereit waren, vom Kleister der Hoffnung zu zehren, an ein Wunder zu glauben, das ausgerechnet von dort kommen sollte, wo Heinrich Vogeler einstmals in einem Lager verscholl.“ Günter Grass sei ein „echter Beglücker der Menschheit – Die Eigenliebe nimmt zu, das Talent jedoch ab.“ 

Sie wundert sich, daß in der DDR kein Generalstreik ausgerufen wird. Als Gregor Gysi am 4. Januar 1990 am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow auf einer monströsen Antifa-Kundgebung  als Hauptredner mit rotem Schal und Prinz-Heinrich-Mütze auftritt, hält sie fest: „Echt gestylt auf moderner Führer der Massen. Alles etwas grauenhaft. Wenn ich dort wäre ärgerte ich mich schwarz. So aber fast gar nicht.“ Ein bißchen aber doch. 

Am 8. Januar kommt sie zu dem Schluß: „In Deutschland sind sie für Revolutionen zu doof.“ Sie leidet an der Politikunfähigkeit der Opposition, die, statt den Kairos zu nutzen und die auf der Straße liegende Macht aufzuheben, sich in Verfahrensfragen verliert und von der SED über den Runden Tisch ziehen läßt. Sie sinniert, ob nicht eine „altmodische-scharfe“ Revolution besser gewesen wäre als eine „sanfte“. Sowenig sie von der DDR hält, wünscht sie sich doch von der kommenden Einheit mehr als die Ausdehnung der Bundesrepublik. „Es wird eines Tages fertig sein das vereinigte Verbraucher-Deutschland, ein bißchen miefig, aber stolz geschwellt.“ Nicht mal das ist eingetroffen.

Am 18. März 1990, dem Tag der ersten freien Wahlen in der DDR, endet das Tagebuch. „Die Leute denken, wenn sie heute CDU wählen, dann haben sie morgen einen Mercedes vor der Tür.“ Der letzte Satz lautet: „Ich bin wütend.“ Die emotionale Aufwallung ergänzt das Bild, das der Leser von der Dichterin bis dahin hatte, um eine sympathische Facette.

Die Ausnahmesituation, der Sarah Kirsch 1989/90 als Chronistin gerecht zu werden versuchte, ist zum Dauerzustand geworden. Schillers „ästhetische(r) Bildungstrieb“, der am Ende „dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt (…) entbindet“, steht damit vor einer ungleich größeren Herausforderung.

Sarah Kirsch: Ich will nicht mehr höflich sein. Tagebuch aus der Wendezeit. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Moritz Kirsch und einem Essay von Frank Trende. Edition Eichthal, Eichthal 2022, broschiert, 253 Seiten, 28 Euro