© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Hetzbilder in Hochauflösung
Journalismus: Erneut rückt die NS-Vergangenheit des Stern-Gründers Henri Nannen in den Fokus
Michael Dienstbier

Deutschland ist seit Jahrzehnten Aufarbeitungsweltmeister der mörderischen Jahre zwischen 1933 und 1945. Damit das so bleibt, bedarf es einer ständigen Zufuhr tatsächlicher oder vermeintlicher Nationalsozialisten, von denen sich die Enkel und Urenkel öffentlichkeitswirksam distanzieren können, um so – und ganz ohne eigene Gefahr – „Haltung“ zu zeigen. Ein weiteres Beispiel der anhaltenden Macht einer „Vergangenheit, die nicht vergeht“ liefert gerade das sinkende Gruner+Jahr-Flaggschiff Stern, bei dem einer der größten der Zunft ins Visier geraten ist: Magazingründer Henri Nannen.

Ins Rollen gebracht wurde der Fall durch den am 10. Mai veröffentlichten Beitrag „Verleger-Legende Henri Nannen: Antisemitische Propaganda“ des Online-Reportageformats strg_F, das zum öffentlich-rechtlichen Jugendkanal „Funk“ (JF 20/22) gehört. In dem 21minütigen Film folgen wir den jungen Haltungsjournalisten Gunnar Krupp und Han Park bei ihrer Archivrecherche nach kompromittierendem Material über Nannens Dienstzeit in einer Propagandaeinheit der Luftwaffe 1944/45.

„Neue Details müssen bisherige Bewertungen in Frage zu stellen“

Die Suche zeigte „nach einem Tip von einem Kollegen“ in der Berliner Staatsbibliothek den gewünschten Erfolg. Viele Flugblätter der SS-Propagandaeinheit „Südstern“, der Nannen in Italien zugeteilt war, werden gezeigt – mitsamt vorgeschalteter Triggerwarnung vor „rassistischen, sexistischen und antisemitischen Bildern“ für das hypersensible „Funk“-Stammpublikum. Die entblößten Brüste auf diversen Stern-Titelbildern und das „N-Wort“ auf einem italienischsprachigem „Südstern“-Flugblatt werden dennoch unkenntlich gemacht – die Stürmer-artigen Hetzzeichnungen hingegen in Hochauflösung umfangreich präsentiert.

Reporter Krupp fragt daher schon zum Filmanfang: „Kann dieser Mann noch ein journalistisches Vorbild sein?“ Und die Antwort gibt wenige Tage später Die Zeit unter dem Titel „Von Südstern zum Stern“: Nannens gesamtes journalistisches Lebenswerk sei damit erledigt. Nicht erledigt ist der Fall hingegen für Gregor Peter Schmitz, der vom Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen zum Stern-Chef aufgestiegen ist. Den ersten Artikel in seiner neuen Funktion veröffentlichte er am 17. Mai unter dem Titel „Henri Nannen und wir“.

Diese Zeilen lesen sich wie der verzweifelte Versuch, weiterhin zu den Guten gehören zu dürfen: „Jede neue Erkenntnis, jedes neue Detail müssen dazu führen, bisherige Bewertungen wieder und wieder in Frage zu stellen“, schreibt Schmitz, um anschließend zu geloben, „noch kritischer als bisher auf den (komplizierten) Menschen Nannen“ zu schauen. Zur Debatte stünden eine Tilgung des Namen Nannens aus dem Impressum sowie eine Umbenennung des Nannen-Preises oder der Henri-Nannen-Schule für Journalisten.

Kommt es also zu einem neuen Fall von Cancel Culture? So ganz paßt der Fall nicht ins übliche Schema. Zum einen war Nannen in der Tat mehr als nur ein gezwungener Mitläufer der NS-Diktatur. Geboren 1913, war er bei den Olympischen Spielen 1936 als Stadionsprecher tätig und als Sprecher bei Leni Riefenstahls Propagandafilm „Olympia“ beteiligt. Auch seine Propagandatätigkeit bei „Südstern“ spricht für eine überdurchschnittliche Identifikation mit dem Regime, auch wenn Nannen selbst nie SS-Mitglied war. Nannen gab zu, von den Verbrechen gewußt zu haben, aber schlicht zu feige zum Widerstand gewesen zu sein. Auch über seine „Südstern“-Zeit hat er sich geäußert, ohne dabei genauer ins Detail zu gehen.

Legendär ist das 1970 ausgestrahlte TV-Wortgefecht zwischen ihm und Gerhard Löwenthal, Leiter des konservativen „ZDF-Magazins“, über die Rolle von Nannens „Südstern“-Vorsetzten, des Kunstmalers Hans Weidemann. Der SS-Obersturmführer hatte in Italien zwar keine Partisanen erschossen – aber sollte der leitende NS-Propagandist nun Leiter des Stern-Wettbewerbs „Jugend forscht“ sein? Als Journalist in der Bundesrepublik unterstützte Nannen die sozialliberale Koalition. Der Stern stand für Unterhaltung, nackte Haut und gelegentlichen investigativen politischen Journalismus mitsamt des legendären Flops der Veröffentlichung der angeblichen Hitler-Tagebücher 1983. Legendär sind die Stern-Bilder von Nannen mit US-Präsident Lyndon B. Johnson, sitzend auf dem Schreibtisch von Kreml-Chef Leonid Breschnew oder Filmaufnahmen im Pool mit SPD-Kanzler Willy Brandt. Nannen erhielt zwei Bundesverdienstkreuze und war bis zu seinem Tod 1996 Mainstream.

Die Heuchelei des linksliberalen Juste milieu einmal mehr offenbart

Die Panikreaktion von Schmitz erklärt sich aus seiner persönlichen Vita. Seine Karriere ist beachtlich und soll jetzt nicht gefährdet werden: Jahrelang arbeitete er für den Spiegel und die Wirtschaftswoche, er ist Stammgast bei bei den GEZ-Sendern und selbst Preisträger des Nannen-Preises, den er 2014 für seine Mitarbeit an den Spiegel-Recherchen „Kanzler-Handy im US-Visier?“ und „Der unheimliche Freund“ erhielt, die die Überwachung Angela Merkels durch amerikanische Geheimdienste dokumentieren. Zudem wurde er 2018 und 2019 vom Medium Magazin zu einem der Topjournalisten von Deutschland gekürt.

Daß es Schmitz und dem Stern nicht wirklich um Aufklärung um jeden Preis geht, zeigt deren nichtssagende Antwort auf eine entsprechende strg_F-Anfrage im Rahmen der „Funk“-Recherchen. Wenn zwei Jungjournalisten die von Nannen verantworteten Flugblätter in Archiven aufspüren konnten, hätte es ein mitarbeiterstarkes Magazin wie der Stern auch gekonnt. Man wollte aber nie, da man genug wußte, um zu wissen, nicht mehr wissen zu wollen. Die Hoffnung, Henri Nannen möge aufgrund seiner in der Bundesrepublik erworbenen Reputation vor den woken Kulturkämpfern der Gegenwart verschont bleiben, hat sich nun erledigt. Und wieder schreien die am lautesten „Nazi“, die sich jahrelang mit dem renommierten Nannen-Preis gebrüstet haben. Diese Heuchelei des linksliberalen Juste milieu einmal mehr offenbart zu haben, ist der größte Mehrwert dieserAffäre.

Beitrag von strg_F über Henri Nannen: www.youtube.com

Foto: Henri Nannen an seinem Arbeitsplatz als Stern- Chefredakteur im Januar 1978: Droht ein neuer Fall von Cancel Culture? Oder machen die gezeigten Flugblätter eine Neubewertung seiner Soldatenzeit unausweichlich?