© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Ukraine-Krieg und Völkerrecht
Die Debatte versachlichen
Gerd Seidel

Die von vielen Medien hoch emotional geführte Berichterstattung über den Ukraine-Krieg läßt außer einer Schwarz-Weiß-Sicht kaum noch andere Farbtöne zu. In der Öffentlichkeit wird von jedermann gebieterisch ein klares Bekenntnis zur vorgegebenen Mehrheitsposition erwartet.

Angesichts dessen ist es angezeigt, die Debatte unter Zuhilfenahme der einschlägigen Völkerrechtsregeln zu versachlichen. Dabei sind bei der Bewertung zwei Bereiche voneinander zu unterscheiden: erstens das Verhältnis zwischen Rußland und der Ukraine und zweitens die Beziehungen zwischen diesen beiden Konfliktparteien einerseits und den übrigen nicht am Konflikt beteiligten Staaten andererseits.

Das erste Verhältnis ist relativ einfach zu beschreiben: Rußland hat am 24. Februar 2022 mit seinen Truppen die Ukraine überfallen und damit das Gewaltverbot, eine zentrale Bestimmung der UN-Charta (Artikel 2 Absatz 4), verletzt. Mit der bis heute anhaltenden Invasion und Bombardierung seines Nachbarstaates erfüllt dieses Vorgehen gleich in mehrfacher Hinsicht den Tatbestand der Aggression im Sinne der das Gewaltverbot konkretisierenden Aggressionsdefinition, die von der UN-Generalversammlung 1974 als Resolution 3314 (XXIX) ohne Gegenstimme angenommen worden ist. Danach ist der Aggressionskrieg „ein Verbrechen gegen den Weltfrieden“, das die völkerrechtliche Verantwortlichkeit nach sich zieht und durch „keine Erwägungen, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Art“, zu rechtfertigen ist.

Auch historische Überlegungen zu Vorgängen, die der russischen Invasion vorausgingen, wie die von Rußland beanstandete sukzessive Nato-Osterweiterung, die zunehmende militärische Kooperation der Ukraine mit dem Westen sowie die frühere Zugehörigkeit der Ukraine zur Sowjetunion vermögen die Feststellung des Tatbestands der Aggression nicht umzustoßen, könnten aber gegebenenfalls bei einer Gesamtbewertung Berücksichtigung finden. Freilich ändert sich an diesem Sachverhalt auch dadurch nichts, daß die russische Regierung innerstaatlich die Verwendung der Begriffe Aggression und Krieg verbietet und statt dessen von einer Spezialoperation spricht.

Das nach der UN-Charta eigentlich zuständige Gremium für die Feststellung der Bedrohung oder Verletzung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, einschließlich der Aggression, sowie für die Ergreifung militärischer oder nichtmilitärischer Maßnahmen für die Wiederherstellung des Friedens ist der UN-Sicherheitsrat. Dieser ist jedoch immer dann durch das Vetorecht blockiert, wenn eine solche Feststellung den Interessen der fünf Großmächte zuwiderläuft. So scheiterte in diesem Fall die verbindliche Verurteilung im Sicherheitsrat am Veto Rußlands, so wie in früheren Fällen (etwa Vietnam, Irak oder Libyen) die USA ihr Veto einlegten oder damit drohten. Dieses Sonderrecht der fünf Mächte steht zwar seit 1945 einem effektiven Friedenssicherungssystem im Wege, ist aber nur mit deren Zustimmung änderbar. Im vorliegenden Fall hat die UN-Generalversammlung am 2. März 2022 mit großer Mehrheit das militärische Vorgehen Rußlands verurteilt. Anders als der Sicherheitsrat kann die Generalversammlung allerdings nur rechtlich unverbindliche Resolutionen verabschieden.

Seit Kriegsausbruch gelten für Rußland und die Ukraine gleichermaßen die Regeln des Kriegsrechts, die vor allem in den Haager Abkommen von 1899 und 1907 sowie in den Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949 nebst deren beiden Zusatzprotokollen fixiert sind. Diese Regelungen sehen eine Begrenzung der Kriegsführung vor. So genießen Zivilpersonen, Verwundete, Kranke und Kriegsgefangene einen besonderen Schutz, und der Einsatz von biologischen und chemischen Waffen ist untersagt. Die vom Kriegsrecht verlangte Unterscheidung von Zivilpersonen und Kombattanten wird von der Ukraine aber dadurch unterlaufen, daß Präsident Wolodymyr Selenskyj zu Beginn des Konflikts alle Bürger aufgerufen hat, zu den Waffen zu greifen. Diese sind staatlicherseits dann auch an Zivilpersonen verteilt worden. Damit werden Zivilpersonen für die russische Armee zu Kombattanten und dürfen als solche bekämpft werden. Wenn Zivilpersonen militärisch relevante Objekte verteidigen, genießen sie nicht mehr den Schutz des Kriegsrechts. Solche Verletzungen des Kriegsrechts sind der ukrainischen Seite zuzurechnen.

Kriegspropaganda sowie die mediale Verbreitung wahrheitswidriger Mitteilungen sind in diesem bewaffneten Konflikt – wie auch zuvor in anderen – eine probate Methode der Kriegsführung. Deshalb sind grundsätzlich alle aus dem Kriegsgebiet kommenden Informationen mit besonderer Vorsicht zu bewerten. Das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung greift hier – ähnlich wie im innerstaatlichen Strafrecht – so lange, bis ein unabhängiges internationales Gremium die Verantwortlichen hierfür festgestellt hat. So ist der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs bereits mit Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf ukrainischem Territorium befaßt. Das zeigt, daß das Völkerrecht durchaus nicht zahnlos ist. Denn seit der Annahme des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, dem 123 Staaten angehören, bestehen heute gute institutionelle Voraussetzungen, um solche Verbrechen international zu verfolgen.

Jene Medienhäuser, die – zum Teil geradezu kriegseuphorisch – mit ihren Vorverurteilungen wie moralische Superinstanzen agieren, sollten sich ihrer Verantwortung bewußt werden, die sie für eine objektive Berichterstattung haben.

Die nicht am bewaffneten Konflikt beteiligten Staaten haben den Status von neutralen Staaten. Dieser Status, der vom Status ständig neutraler Staaten wie der Schweiz zu unterscheiden ist, wird vom völkerrechtlichen Neutralitätsrecht bestimmt. Er erlegt mit Kriegsbeginn den nicht am Konflikt beteiligten neutralen Staaten ebenso wie den Kriegsparteien Rechte und Pflichten auf. Diese sind darauf gerichtet, den bewaffneten Konflikt räumlich und personell möglichst zu begrenzen. So sind die neutralen Staaten verpflichtet, nicht an militärischen Handlungen der Konfliktparteien teilzunehmen oder diese dabei zu unterstützen. Daraus resultiert die überwiegend im Völkerrecht vertretene Position, daß die Lieferung von Waffen, Kriegs- und Rüstungsmaterial prinzipiell untersagt ist. Auch die massive finanzielle Unterstützung einer Kriegspartei kann das völkerrechtliche Neutralitätsrecht verletzen. Das bedeutet, daß Deutschland jedenfalls durch die Lieferung schwerer Waffen sowie durch die Bereitstellung des deutschen Territoriums für die Ausbildung ukrainischer Soldaten den Status des neutralen Staates verliert und somit von Rußland als Kriegspartei betrachtet werden kann. Das hat zur Folge, daß Rußland Kriegshandlungen gegen Deutschland vornehmen könnte. Das hätte wiederum die Konsequenz, daß gemäß Artikel 5 des Nato-Vertrags der Bündnisfall ausgelöst und der Weg zum Weltkrieg eröffnet werden könnte.

Auf diese Weise kann genau derjenige Fall eintreten, den der deutsche Bundeskanzler wie auch der Nato-Generalsekretär wiederholt in ihren Erklärungen verhindern wollten, nämlich die Ausdehnung des bilateralen Konflikts auf die Nato. Deshalb haben die Nato-Mitgliedstaaten bewußt darauf verzichtet, der Ukraine über den Weg der kollektiven Selbstverteidigung nach Artikel 51 UN-Charta offiziell den Beistand zu erklären, denn dann hätten die Nato-Staaten automatisch als Konfliktparteien an der Seite der Ukraine Rußland gegenübergestanden. Nun aber wird durch die substantielle militärische Unterstützung der Ukraine, das heißt durch die Aufgabe der Neutralität und die faktische Übernahme der Position einer Konfliktpartei eben das bewirkt, was gerade vermieden werden sollte. So könnte Deutschland – ähnlich wie 1914 – in einen Weltkrieg hineintaumeln, dieses Mal allerdings mit der Gefahr der gegenseitigen atomaren Vernichtung verbunden.

Von einer Außenministerin, die von sich behauptet, „vom Völkerrecht zu kommen“, sollte man erwarten können, daß sie diese Gefahr erkennt. Statt dessen erhebt sie lautstark die kriegsverlängernde Forderung nach Lieferung schwerer Kriegsgeräte in die Ukraine und nimmt dabei – entgegen ihrem Amtseid – sogar einen Atomkrieg in Kauf.

Auch im übrigen hat sich die deutsche Regierung als zu schwach erwiesen, dem Druck der ukrainischen Regierung und der sie hierzulande verstärkenden Medien zu widerstehen. Mit seinen teilweise maßlosen Forderungen gegenüber Deutschland unterstellt der ukrainische Präsident Selenskyj, daß Deutschland eine Pflicht zur militärischen Hilfe hätte. Tatsächlich aber statuiert das Völkerrecht in Artikel 51 UN-Charta ein Recht, jedoch keine Pflicht dritter Staaten, einen angegriffenen Staat militärisch zu unterstützen. Eine Pflicht bestünde nur dann, wenn der UN-Sicherheitsrat dies angeordnet hätte. Die penetrante Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik durch den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk im Stile eines Hohen Kommissars hätten normalerweise die Ausweisung dieses Botschafters als persona non grata zur Folge haben müssen. Die Hinnahme der wiederholten Akte der Desavouierung widerspiegelt jedoch den derzeitigen Zustand, in dem sich Deutschland befindet.

Rußland hat mit der anhaltenden Aggression viel Vertrauen zerstört und Ansehen in der Welt verloren. Dennoch wird es allein schon wegen der geographischen Nähe nach Beendigung des Konflikts erforderlich sein, zu Rußland – ob mit oder ohne Putin – friedliche Beziehungen, allerdings auf einer völlig neuen Grundlage, wieder herzustellen. Dies sollte man heute schon bedenken.






Prof. i. R. Dr. Gerd Seidel, Jahrgang 1943, war bis 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die unheimliche Wiederkehr der DDR 30 Jahre nach der Wiedervereinigung („Bekannt in neuem Gewand“, JF 37/20).

Foto: Blutbeflecktes Stofftier auf dem Vorplatz am Bahnknotenpunkt Kramatorsk (Bezirk Donezk), wo am 8. April bei einem russischen Raketenangriff nach Behördenangaben 57 Menschen getötet und über hundert verletzt wurden: Rußlands Aggressionskrieg ist ein Verbrechen gegen den Weltfrieden