© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Frühe Weichenstellung
Die nach 1990 geschaffene Sicherheitsarchitektur in Europa zwischen Nato und Rußland wurde bereits von der US-Regierung unter George W. Bush aufs Spiel gesetzt
Dirk Glaser

Im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 wurde vereinbart, daß die Wiedervereinigung Deutschlands weder US-Amerikanern noch Russen zum geopolitischen Vorteil gereichen, der Mauerfall also keine „militärische Ostverschiebung der Nato“ nach sich ziehen sollte. Die neue Sicherheitspartnerschaft füllte sich mit Leben, als 1991 die USA und Rußland ihre 2.700 Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa zerstörten und die russischen Besatzungsarmeen bis 1994 die Ex-DDR, Polen, Ungarn, die Ex-Tschechoslowakei und das Baltikum räumten. Um diesen Vertrag in den Rahmen einer größeren Sicherheitsarchitektur einzufügen, verpflichteten sich im selben Jahr Nato und Warschauer Pakt im multilateralen Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), ein militärisches Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau herzustellen und die kollektiven Fähigkeiten zu einem regionalen Überraschungsangriff oder zu großangelegter Aggression zu eliminieren. Bis 1996 verschwanden denn auch 60.000 Großwaffensysteme in der Schrottpresse. 

Bruch begann, als die USA die AKSE-Ratifizierung ablehnten

Alles schien auf bestem Wege. Kühnste pazifistische Träume sollten zumindest für Europa wahr werden: „Nie wieder Krieg!“ Zumal im Mai 1997 mit der Nato-Rußland-Grundakte und der Einrichtung eines Nato-Rußland-Rates zur Vertiefung der diplomatischen Kommunikation der Sicherheitsneubau scheinbar an Wetterfestigkeit gewann. In der Grundakte verpflichten sich die Nato und Rußland, ihre Sicherheitskooperation zu vertiefen, die Zahl stationierter Truppen zu begrenzen und darauf  – dies aus russischer Sicht der Kern des Abkommens – „keine zusätzliche permanente Stationierung substantieller Kampftruppen“ vorzunehmen. Zugleich versicherte die Nato, nicht zu beabsichtigen, auf das Territorium jener Länder, denen sie damals bereits Beitrittsperspektiven eröffnet hatte – Polen, Tschechien und Ungarn –, mit Atomwaffen vorzurücken. Um auch der Grundakte noch ein zusätzliches Korsett einzuziehen, einigten sich die KSE-Staaten 1999 auf ein Anpassungsabkommen (AKSE). Darin versprachen die Unterzeichner, ihre gegenseitigen Sicherheitsinteressen zu respektieren und ihre Sicherheit nicht zu Lasten anderer Staaten zu festigen.   

Wie inzwischen allzu bekannt, setzte sich diese nüchterne Erzählung vom friedlichen Ende des Kalten Krieges nicht in der glücklichen Zukunft fort, die diese ersten verheißungsvollen Schritte beider „Sicherheitspartner“ erwarten ließ. Die Verantwortung dafür bürdet der Chronist Wolfgang Richter, Oberst a. D. und ehemals Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE, im wesentlichen der Nato-Führungsmacht USA auf. In seiner Studie über „Die Ukraine im Nato-Rußland-Spannungsfeld“, wenige Tage vor Kriegsausbruch in SWP-Aktuell (11/2022) veröffentlicht, erinnert er daran, daß die Erosion der Vereinbarungen begann, als 2001 US-Präsident George W. Bush ins Amt gekommen war. Obwohl Rußland das AKSE 2004 ratifizierte, weigerte sich Bush, gleiches zu tun, weil er den Abzug verbliebener russischer Stationierungstruppen aus Georgien und der Republik Moldau nutzen wollte, um den Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens zu forcieren und so letztlich die Sicherheit der USA auf Kosten Rußlands zu stärken.

Auch nachdem Rußland schon 2002 alle KSE-relevanten Waffensysteme aus Transnistrien und 2007 alle Stationierungstruppen aus Georgien abgezogen hatte, änderte sich die Haltung des Weißen Hauses nicht. Deutschland unter Bundeskanzlerin Angela Merkel habe diese aggressive Position zwar nicht geteilt, „wollte aber die Bündnissolidarität nicht brechen“. Nur zusammen mit Paris war Berlin gerade einmal in der Lage, den „Bukarester Beschluß“ vom April 2008 zu torpedieren, mit dem Bush Georgien, das mit den USA 2002 eine provokante „Militärkooperation“ eingegangen war, und der Ukraine den Bündnisbeitritt in Aussicht stellte, obwohl die innenpolitischen Verhältnisse beider Wunschkandidaten Lichtjahre von Nato-Standards entfernt waren.

Als „Bruchpunkt“ in den Nato-Beziehungen zu Rußland habe sich der nicht umgesetzte Beschluß gleichwohl erwiesen. Die USA steuerten seit 2004 auf diesen Bruch zu, als die baltischen Staaten in die Nato kamen und sich in potentielle Stationierungsräume der Allianz verwandelten. 2007 schufen die USA eine ständige Militärpräsenz am Schwarzen Meer, ohne dies vorher im Bündnis oder im Nato-Rußland-Rat zu erörtern. Seine  „rotierenden“ Kampftruppen in Rumänien und Bulgarien deklarierte das Pentagon kurzerhand als „nicht substantiell“. Beide Staaten zählen aber zum Flankengebiet der „östlichen Gruppe“ der KSE-Staaten, für die besondere, von den USA ignorierte Begrenzungen und Konsultationspflichten gelten.

Moskaus Annexion der Krim war völkerrechtswidrig

Welche Risiken Bushs Offensivstrategie für die regionale Stabilität im Kaukasus und die Sicherheit Europas in Kauf nahm, zeigte sich nur Monate nach dem stornierten „Bukarester Beschluß“. Ermutigt durch den US-Rückhalt, griffen georgische Truppen im August 2008 ossetische Milizen und russische, mit UN-Mandat ausgestattete „Peacekeeper“-Einheiten an. Ein russischer Gegenschlag vertrieb die Georgier aus Südossetien und eröffnete eine zweite Front in Abchasien. Daß Moskau dann beide Kaukasusregionen als „Staaten“ anerkannte, werteten die USA, der Verursacher des Konflikts, prompt als „Verletzung der Souveränität Georgiens“.

Moskaus Annexion der Krim (2014), die Richter für klar völkerrechtswidrig hält, habe schließlich die Weichen in Richtung des heutigen russisch-ukrainischen Krieges gestellt. Weil die Stationierungsräume der Nato aber seit 2002 in unmittelbare Nähe russischer Kernregionen expandierten, könne Moskau sein heutiges Vorgehen mit dem Vorbild der USA legitimierten, die 1962 mit einem Atomkrieg drohten, um während der Kuba-Krise ihre strategischen Sicherheitsinteressen zu wahren, was Putin und sein „ewiger Außenminister“ Sergei Lawrow dann unverblümt auch taten. 

 www.swp-berlin.org

Foto: Bundeskanzlerin Merkel mit US-Präsident George W. Bush auf der Nato-Tagung in Bukarest 2008: „Bruchpunkt“ in den Beziehungen zu Rußland