© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Das Grenzregime zeigt seine Fratze
„Aktion Ungeziefer“: Ende Mai 1952 fanden in der DDR an der nun abgeriegelten innerdeutschen Grenze ausgiebige Vertreibungen statt
Thomas Schäfer

Durch die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland entstand 1949 die innerdeutsche Grenze. Über die selbige ergoß sich in der Folgezeit ein endloser Strom von Übersiedlern in Richtung Westen: Bis Ende 1951 lag deren Zahl bereits bei knapp 500.000. Um diese Abstimmung mit den Füßen zu stoppen, verschärfte die DDR ihr Grenzregime Schritt für Schritt. Wichtige Marksteine hierbei waren die Maßnahmen vom Frühjahr 1952, welche aus Anweisungen der sowjetischen Besatzungsmacht resultierten.

Am 14. April 1952 trafen der DDR-Präsident Wilhelm Pieck, der Regierungschef Otto Grotewohl und der Vorsitzende des Zentralkomitees der SED Walter Ulbricht mit der Führung der Sowjetischen Kontrollkommission zusammen. Letztere übermittelte zahlreiche Beschlüsse aus Moskau hinsichtlich des künftigen Regimes an der knapp 1.400 Kilometer langen Grenze zur BRD, die offiziell noch „Demarkationslinie“ hieß. So sollte dort nun unter anderem eine fünf Kilometer breite Sperrzone entstehen, welche sich über insgesamt 3.000 Quadratkilometer erstreckte – das entsprach 2,8 Prozent des DDR-Territoriums.

Einen Monat später tagte das Politbüro des ZK der SED, um das Vorgehen bei der Umsetzung der sowjetischen Vorgaben zu beraten. Hieraus resultierten zwei Erlasse, die am 26. Mai 1952 herausgegeben wurden und am gleichen Tag beziehungsweise ab Mitternacht des 27. Mai in Kraft traten: die „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“ seitens der Regierung der DDR und die vom Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser unterzeichnete „Polizeiverordnung über die Einführung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie“.

Um sicherzustellen, daß in der Sperrzone nur politisch zuverlässige Personen leben, erteilte der Chef der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei Karl Maron darüber hinaus den Geheimbefehl 38/52 über die zwangsweise Aussiedlung von Ausländern, Staatenlosen, Kriminellen und Bürgern der DDR, welche „wegen ihrer Stellung in und zu der Gesellschaft eine Gefährdung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung darstellen“. Dabei sollten die Volkspolizeikreisämter im Grenzgebiet Vorschläge unterbreiten, die dann von einer speziellen Kommission, bestehend aus dem Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung, dem Landrat sowie den Kreis-Chefs von Polizei und Staatssicherheit, bestätigt werden mußten. Anschließend gingen die so erarbeiteten Listen nach Berlin, wo zwei weitere Kommissionen das endgültige Plazet erteilten.

Ungeachtet dieses aufwendigen Verfahrens erfolgte die Aussiedlung am Ende dennoch reichlich willkürlich oder auf der Basis von substanzlosen Denunziationen: Neben ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Offizieren der Wehrmacht sowie Oppositionellen mußten auch Bürger mit Westverwandtschaft, Kirchgänger, „Bibelforscher“, „RIAS-Hörer“, „Asoziale“ sowie Gewerbetreibende und Einzelbauern die Sperrzone und damit ihre Heimat für immer verlassen. Die Vertreibung erfolgte am 5. und 6. Juni 1952 durch Kommandos der Staatssicherheit und der Volkspolizei – vielfach blieben den Leidtragenden nur ganze zwei Stunden, um ihre bewegliche Habe zu packen. 

Zu diesem Zeitpunkt war noch von einer „Aktion X“ die Rede, allerdings wurde der Codename nachträglich in „Aktion Ungeziefer“ geändert, was wohl aus der zynischen Wortwahl des thüringischen Innenministers Willy Gebhardt resultierte, welcher am 9. Juni 1952 stolz die erfolgreiche „Beseitigung des Ungeziefers“ entlang der Grenze meldete. 

Die Zahl der Zwangsumgesiedelten lag bei genau 8.369, womit 2,14 Prozent der Bewohner der Sperrzone betroffen waren. Darüber hinaus wechselten aber auch zahlreiche Bewohner des Fünf-Kilometer-Streifens fluchtartig in die Bundesrepublik, als sie vom Anrücken der Sicherheitskräfte hörten. Und manche leisteten sogar erbitterten Widerstand. So gab es im südthüringischen Streufdorf regelrechte Kämpfe mit der Polizei, die schließlich berittene Unterstützung und Wasserwerfer anfordern mußte. Danach verschwanden dann einige „Rädelsführer“ für bis zu acht Jahre im Gefängnis. Andere Menschen wiederum reagierten auf die Aufforderung, sich für den Abtransport bereitzumachen, mit Suizid.

Vorlage für weitere Deportationen nach 1961

Aufgrund der „Aktion Ungeziefer“ verödeten zahlreiche Ortschaften entlang der innerdeutschen Grenze und verschwanden am Ende ganz von der Landkarte. Dies galt unter anderem für Bardowiek, Lankow und Lenschow in Mecklenburg-Vorpommern, Markusgrün und Troschenreuth in Sachsen, Grabenstedt und Jahrsau in Sachsen-Anhalt sowie Billmuthausen, Dornholz und Erlebach in Thüringen. Das letztgenannte Land der DDR wurde damals am stärksten heimgesucht. Hier gab es insgesamt 3.066 Zwangsumsiedlungen. Gleichzeitig setzten sich rund 3.700 Bewohner der thüringischen Grenzgebiete in den Westen ab. 

Viele der Opfer der „Aktion Ungeziefer“ mußten am Ziel ihrer Deportation jahrelang unter prekären Umständen leben und wurden darüber hinaus als „Kriminelle“ diskriminiert, die der Staat zu Recht gemaßregelt habe. Ebenso gab es keinerlei Entschädigungen für das zurückgelassene Eigentum. 

Nach dem Unrecht des Jahres 1952 erließ der DDR-Ministerrat am 24. August 1961 die „Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung“, auf deren Grundlage dann im Oktober desselben Jahres die „Aktion Kornblume“ beziehungsweise „Aktion Festigung“ stattfand, in deren Verlauf nochmals 3.200 mißliebige Personen gegen ihren Willen aus der Sperrzone entlang der deutsch-deutschen Grenze verschleppt wurden.