© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Vergiftete Angebote
Wie die Rüstungsfrage und ein intriganter Botschafter 1932 zur Entlassung von Reichskanzler Heinrich Brüning führte
Stefan Scheil

Fünfzehn Jahre und einen Weltkrieg später war Heinrich Brüning immer noch empört. Die Umstände seiner Entlassung als Reichskanzler im Mai 1932 seien skandalös gewesen, inhaltlich wie formal: „Als ich mich weigerte, mit der Rechten ein Kabinett zu bilden, schickte der Reichspräsident an alle Generäle im Dienst und außer Dienst ein Rundschreiben.“ In diesem Rundschreiben habe Präsident Paul von Hindenburg den Militärs den Eindruck vermittelt, Brüning hätte absichtlich eine Chance zur deutschen Wiederaufrüstung verspielt. Das schädigte seinen Ruf, aber es traf ganz sicher nicht zu. Brüning tat alles für die deutsche Gleichberechtigung auch im Rüstungsbereich, aber er achtete dabei stets darauf, nicht zum Spielball ausländischer Interessen zu werden. Solche Geduld wollte Hindenburg nun nicht mehr aufbringen.

Allgemeine Abrüstung war nicht im Sinne von Paris und London

Wer heute noch an das Frühjahr vor neunzig Jahren denkt, als mit Heinrich Brüning der vorläufig letzte deutsche Regierungschef entlassen wurde, der sich gedanklich auf dem Boden von Demokratie und Parlamentarismus bewegte, der hat eher die seinerzeitige Weltwirtschaftskrise im Sinn. Oder er denkt an den damaligen Dauerstreit um die „Reparationen“, die Deutschland den Siegermächten als Schadenersatz für den Ersten Weltkrieg zahlen sollte. Auch während Brünings Amtszeit wurden solche Zahlungen recht erfolgreich verschleppt, ganz loswerden konnte die Berliner Regierung sie aber nicht. 

Als dies dann später im Jahr 1932 faktisch gelingen sollte, hinterließ dies in der Öffentlichkeit den Eindruck, Reichskanzler Brüning sei nach einem langen, zweijährigen Rennen nur „hundert Meter vor dem Ziel“ entlassen worden. Diese Version pflegte Brüning vor einem größeren Publikum auch selbst vorzutragen. Intern hob er aber gern und häufig auf ganz andere Umstände ab, die zu seiner Entlassung geführt hatten. In Wahrheit sei es eben um die Frage der Wiederaufrüstung gegangen.

Im Jahr 1932 stand die europäische Politik in der Tat vor einem schwierigen Problem. Mehr als zehn Jahre vorher hatte man dem Deutschen Reich im Versailler Friedensvertrag eine einseitige Abrüstung aufgenötigt. Begleitet hatten die Siegerstaaten dies mit dem Versprechen, in absehbarer Zeit eine allgemeine Abrüstung einzuleiten. Nun war solche Zeit absehbar vergangen, und seit Januar 1932 tagte in der Schweiz sogar eine vor längerer Zeit einberufene Abrüstungskonferenz. Moralisch wie politisch gesehen würde sie den Zustand der einseitigen deutschen Abrüstung beenden müssen, der inzwischen anachronistisch geworden war. Andernfalls würde der gesamte Versailler Vertrag seine Grundlage verlieren können.

Rüstungsparität aber konnte nun eben durch die versprochene allgemeine Abrüstung erreicht werden oder durch eine irgendwie gestaltete deutsche Nachrüstung. Beides aber ließ sich weder in London noch in Paris so richtig offiziell durchsetzen. Dort wollte so gut wie niemand eine allgemeine Abrüstung, und eben dies schuf also das scheinbar ausweglose politische Problem. Dessen Lösung konnte aber nun wie folgt aussehen: Man brauchte eine deutsche Regierung, die einfach faktisch aufrüsten würde, ohne daß man es ihr in einem Abkommen zugestanden hatte. Dann ließ sich zu gegebener Zeit vielleicht ein Abkommen auf Basis des neuen Rüstungsstatus schließen.

Exakt dies seien nun die Nachrichten gewesen, die der neue französische Botschafter seit Herbst 1931 in Berlin verbreitet habe, so Brüning. Um eine solche deutsche Regierung zu fördern, dafür hatte die Pariser Regierung André François-Poncet auf diesen Posten geschickt. Keinen Berufsdiplomaten also, sondern einen frisch aus der Parlamentsarbeit heraus verpflichteten Lobbyisten der französischen Stahlindustrie. Kanzler Brüning betrachtete dessen Tätigkeit mit Mißtrauen. Das vergiftete Angebot, die Westmächte würden gegen eine vertragswidrige deutsche Rüstung nichts unternehmen, belastete schließlich einmal mehr das Deutsche Reich einseitig mit dem Ruf des Vertragsbrechers. Sich nun ausgerechnet mit der Hereinnahme der NSDAP in die Regierung die parlamentarische Mehrheit für diese Rüstungspolitik zu beschaffen, das lehnte Brüning erst recht ab. Andere griffen allerdings zu, darunter an führender Position der Reichspräsident und dessen Umgebung. Beide kamen zu der Ansicht, die NSDAP durchaus für solche Zwecke benutzen zu können, ohne sie mit letzter Konsequenz an die Macht lassen zu müssen. Das stellte sich als Fehleinschätzung heraus, aber wenigstens eines funktionierte aus Sicht des westlichen Auslands, wie Brüning im September 1945 zu amerikanischen Offizieren im Verhör sagte: „Alle Regierungen waren erleichtert, als die Nazis aufrüsteten. Es war weniger die deutsche als die französische Stahlindustrie, die die Wiederaufrüstung wollte. Ich muß zugunsten der britischen Schwerindustrie sagen, daß sie am meisten zögerte, mit der Aufrüstung zu beginnen.“ Empörende Umstände gab es in den Jahren 1932/33, fürwahr.

Foto: Reichskanzler Heinrich Brüning plädiert vor dem Völkerbund für eine internationale Abrüstung, Genf im Februar 1932: Alles für die deutsche Gleichberechtigung