© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Corona als Damaskus-Erlebnis
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist über die leichtfertige Aufhebung von Grundrechten in der Corona-Politik entsetzt / Warnung vor einem Orwell-Staat in der Zukunft
Thorsten Hinz

Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik an der Universität Bonn, vordem an der Uni im österreichischen Krems, hat sich in der Vergangenheit einen Namen als Produzentin von Schnapsideen gemacht. Gemeinsam mit dem als Zitate-Fälscher entlarvten Schriftsteller Robert Menasse verfaßte sie ein „Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik“, das so bahnbrechende Visionen enthält wie: „Wenn sich Europa über die Bankenunion und den Schuldentilgungsfonds in Richtung Haftungsunion weiterentwickeln wird, dann wird auch die gemeinsame Entscheidung über Ausgaben anders organisiert werden müssen.“ Aus Maastricht und seinen geldpolitischen Folgen nichts gelernt, kann man da nur sagen. 

Ein paar Jahre später kam sie auf die Idee, Zuwanderern aus der Dritten Welt in Europa Bauland zur Verfügung zu stellen. Analog zu New Hannover oder New Hampshire in den USA entstünden für Syrer ein Neu-Aleppo, für Afghanen ein Neu-Kandahar und für Nigerianer ein Neu-Ondo und für alle „ein buntes Europa, ein respektvolles Nebeneinander, ein Verbund von Andersartigkeit unter gleichem europäischen Recht, ein kreatives Netz von Vielfalt“. Auch die Finanzierung wäre kein Problem: „Die Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine oder andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen und zu dichten. Es entstehen hippe Cafés“ usw. usf.

Man muß sich diesen Unsinn vergegenwärtigen, um Frau Guérots Damaskus-Erlebnis, das sich in ihrem neuen Buch niederschlägt, in seiner ganzen Wucht zu würdigen. Es ereilte sie zu Beginn des Corona-Lockdowns im März 2020, als sie auf einer Parkbank am Donau-Kanal in Wien sitzend – „weit und breit allein auf weiter Flur“ –in die Frühlingssonne blinzelte. Vier bewaffnete Polizisten traten auf sie zu und forderten sie auf, den öffentlichen Raum zu verlassen. Was sie wahrnahm, war neben der Kujonierung ihres Alltags die Abschaffung des öffentlichen Raums als Ort des sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Miteinanders, kurzum: als Ort individueller und kollektiver Freiheit. Dieser Zustand ist noch längst nicht behoben und kann sich jederzeit wiederholen.

Für Guérot als Anhängerin des liberalen Rechtsstaats war das ein Schock. Sie bestreitet die Corona-Krankheit nicht, die auch ihren Familien- und Bekanntenkreis mit teilweise schweren Symptomen heimsuchte. Doch das rechtfertigt nicht den Ausnahmezustand, die Aufhebung verbriefter Rechte und verfassungsmäßiger Garantien mit der Universalbegründung der Pandemiebekämpfung. Noch immer findet keine Evaluierung der Corona-Politik und ihrer wirtschaftlichen, sozialen, psychischen Kollateralschäden statt. Die Medien liefern weiter einen „Gefälligkeits- und Panikjournalismus“, während kritische Stimmen so gut wie keinen Zugang erhalten. Guérot sieht den Grund darin, daß am Ende einer ehrlichen Bilanz eine Welle von Regreßforderungen stünde.

Erlaubt war eine einzige, staatlich verordnete Sichtweise

Was sie in drei Kapiteln aufzählt, ist meistenteils nicht wirklich neu; sie faßt die relevanten Kritikpunkte in geballter Form und mit von Zorn befeuerter Verve zusammen. Der Titel kündigt eine Streitschrift an, die erklärtermaßen aufrütteln, eine Bresche und gleichzeitig eine Brücke schlagen soll, um die Argumente und Fakten, die nur in den alternativen Medien zu finden sind, mit dem Diskurs der Leitmedien in Verbindung zu bringen.

Die wichtigsten Stichworte und Gedanken: Die Justiz ist eingeschüchtert, das Bundesverfassungsgericht hat beim Schutz der Grundrechte völlig versagt. Wir haben es mit einer „Verstrickung internationaler Stiftungen mit der globalen Governance im Gesundheitssystem“ zu tun. Erlaubt ist eine einzige, staatlich verordnete Sichtweise. Das isolierte, seiner sozialen Kontakte und sinnlichen Erfahrungen beraubte Individuum bewegt sich in einer entfremdeten Welt der Simulationen. Die Dauerbeschallung mit nicht validen Zahlen, Meldungen, Expertisen ist eine „systematische Irreführung durch widersprüchliche Informationen“. Sie entspricht einer von der CIA entwickelten Verhörmethode und der Praxis in nordkoreanischen Gefängnissen, die Gefangenen zu verwirren, indem man ihnen nach unkalkulierbaren Kriterien kleine Freiheiten gewährt – oder auch nicht. „Am Ende weiß keiner mehr, was er eigentlich darf.“

Dem politisch-medialen stellt sie den „digital-biometrischen-finanzkapitalistischen Komplex“ zur Seite, der das Bewußtsein okkupiert und den menschlichen Körper zu verwerten trachtet. Mit dem globalen Impfpaß, der Abschaffung des Bargelds und einem implantierten Chip würden die Menschen grenzenlos kontrollier- und bald auch bis in die Bewußtseins- und Denkprozesse hinein steuerbar. Die vom digital-kapitalistischen Globalregime unterhöhlten Staaten könnten ihren Bürgern keinen Schutz mehr bieten. Um die Verwirklichung dieser Horrorvision zu verhindern, stellt sie sich eine „postnationale, postkapitalistische und postpatriachale Welt“ vor. Nun ja.

Obwohl der Corona-Autoritarismus sich allerspätestens in der „Refugee“- und Klima-Hysterie angekündigt hatte, zeigt Frau Guérot sich von ihm überrascht. So ganz hat sie sich aus ihrer illusionären Blase immer noch nicht befreit und gibt sich im Vorwort überzeugt, daß in der Debatte um die Einführung des Euro der zwanglose Zwang des besseren Arguments geherrscht hätte. Erschwerend für die Lektüre ihrer insgesamt lesenswerten Schrift ist die konsequente Gender-Schreibweise. Sämtliche personenbezogenen Substantive sind mit einem Binnen-Doppelpunkt versehen. Diesen Unfug sollte man den Spinner:innen überlassen. Oder, mit Verlaub, den Idiotinnen und Idioten.

Ulrike Guérot: Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit und darüber, wie wir leben wollen. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022, gebunden, 140 Seiten, 16 Euro

Foto: Polizei kontrolliert Coronamaßnahmen, Köln im Februar 2021: Aufhebung verbriefter Rechte