© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Der Flaneur
Oje, das 9-Euro-Ticket
Paul Leonhard

Als aufmerksamer Beobachter weiß ich, wo der viel zu kurze Regionalzug halten wird, der gerade langsam auf Gleis 3 einfährt. Natürlich nicht dort, wo sich die meisten Reisenden unter der Bahnsteiguhr und der elektrischen Anzeigetafel versammelt haben, sondern viel weiter vorn. Dort, wo zwei einsame Männer stehen und gerade ihre Zigaretten ausdrücken.

Der Triebwagenführer – Gespräche mit ihm während der Fahrt strengstens verboten – hebt grüßend die Hand. Nicht ich bin gemeint, sondern die beiden uniformierten Bahnmitarbeiter, in deren Nähe ich mich gestellt habe. Diese winken jetzt lässig zurück. Und wie ich es geahnt habe, öffnet sich exakt vor ihnen eine der beiden Türen des Waggons. Die beiden steigen selbstbewußt, wie es sich für Uniformierte gehört, und mit Schwung ein, dabei zwei, drei verblüffte Aussteigewillige zurückdrängend. Die Herrenfrage ist damit geklärt.

Auf dem Bahnsteig hasten die Reisenden mit Sack und Pack, Kind und Kegel dem Zug hinterher.

Auf dem Bahnsteig hasten derweil die Reisenden mit Sack und Pack und Kind und Kegel dem Kurzzug hinterher. Wie zum Hohn erklingt aus dem Lautsprecher die Aufforderung: Nutzen Sie bitte zum Einsteigen die gesamte Zuglänge.

Ein fast identisches Erlebnis habe ich eine Stunde später bei der S-Bahn. Auch sie besteht lediglich aus einer Diesellok und einem Wagen. Auch sie hält da, wo ein Schaffner steht und nicht die meisten Menschen. Aber alle sind letztlich froh, daß sie überhaupt eingefahren ist und tatsächlich auch weiterfährt. Denn die beiden Vorgängerbahnen sind ausgefallen, eine wegen angeblich plötzlicher Erkrankung des Triebwagenführers, die andere wegen technischer Probleme. Und die elektronische Tafel teilt mit, daß auch die folgende S-Bahn ausfällt – wegen Bauarbeiten. Schaffner scheint es dagegen ausreichend zu geben. Mein Fahrschein wird auf der weiteren Fahrt dreimal kontrolliert, und zwar von unterschiedlichen Bahnmitarbeitern, die sich Masochisten gleich durch den überfüllten Zug drängen. Irgendwie graut mir vor dem Neun-Euro-Ticket.

Doch die DB sieht für mich und all die anderen nur Vorteile. „Flatrate: Beliebig viele Fahrten in dem ausgewählten Monat im Nahverkehr. Deutschlandweit: In allen Verkehrsmitteln des ÖPNV (wie RB, RE, U-Bahn, S-Bahn, Bus, Tram). Spontan und mobil: Online und über unsere Apps buchbar“.