© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Nochmal antreten
Nach dem Chaos in Berlin: Eine Wiederholung der Wahl ist zwingend notwendig
Frank Hauke-Steller

Wenn etwas als die Visitenkarte eines demokratischen Landes gelten kann, dann funktionierende freie, gleiche und geheime Wahlen. Hier gibt Deutschland, das sich andernorts gern als Moral-Weltmeister aufspielt, ein peinliches Bild ab. Gleich für sechs Wahlkreise fordert Bundeswahlleiter Georg Thiel wegen schwerer Mängel einen neuen Urnengang. So etwas gab es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nie. Alle Wahlkreise liegen in der Hauptstadt – die normalerweise als weitere Referenz für das Image eines Staates dient.

Schon kurz nach der Bundestagwahl war klar, die Berliner konnten nicht unter regulären Umständen abstimmen. Fehlende, falsche und illegal kopierte Wahlzettel, verriegelte Wahlräume und Abstimmungen bis drei Stunden nach offizieller Schließung der Wahllokale machten bereits damals die Runde. Auch daß nicht selten mehr abgegebene Stimmen als Wahlberechtigte gezählt wurden, ließ aufhorchen.

Doch außer dem Rücktritt der Landeswahlleiterin geschah nichts. Acht Monate später hat das „komplette systematische Versagen der Wahlleitung“ durch diese Aussage des Bundeswahlleiters einen offiziellen Stempel bekommen. Die Hälfte der Hauptstädter müßte nun noch einmal abstimmen, wenn der Bundestag dem Antrag des Wahlleiters zustimmt.

Die Aufarbeitung des Skandals dauerte lange, und nun geht sie durch die folgende parlamentarische Debatte noch in die Verlängerung. Solange ist der Bundestag, das höchste Gesetzgebungsorgan der Republik, nicht ordnungsgemäß besetzt. Sollte das Parlament dem Antrag Thiels nicht folgen, nimmt die Glaubwürdigkeit der Demokratie irreparablen Schaden. Das Vertrauen in den einzigen und damit wichtigsten Akt des Souveräns wäre zerstört. Insofern kann jeder Demokrat nur hoffen, daß sich eine Mehrheit für die Wahlwiederholung findet. In einem Staat mit dem ethischen Anspruch Deutschlands wäre es eigentlich selbstverständlich, daß alle Abgeordneten zustimmen.

In der Tat geht es bei den sechs Wahlkreisen um nicht wenig. Wie oft rufen uns Politiker zu: „Es kommt auf jede einzelne Stimme an!“ Hier ist die Hälfte der Wähler einer 3,8-Millionen-Stadt betroffen. Darüber darf niemand zur Tagesordnung übergehen. Denn, so meint Thiel, aufgrund der Pannen könne nicht ausgeschlossen werden, „daß sich ohne diese Vorkommnisse eine andere Sitzverteilung des Deutschen Bundestages ergeben hätte“.

Es braucht starke Worte, um die Fassungslosigkeit des Wahlleiters zu überbieten: „Wir sind hier in der bundesdeutschen Hauptstadt eines zivilisierten Landes, und doch klappt es nicht“, hatte der 65jährige gesagt. Versuchen wir es: Das sind Verhältnisse, wie wir sie nur aus Scheindemokratien oder Bananenrepubliken kennen.

Die unfähige Berliner Landesregierung aus SPD, Grünen und Linken, die bei der gleichzeitig, unter nicht minder skandalösen Umständen stattfindenden Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses bestätigt wurde, hat ganz Deutschland blamiert. Natürlich müßte auch diese Abstimmung wiederholt werden. Auf sie treffen all die Mängel zu, die Thiel für die Bundestagwahl diagnostizierte – allerdings um ein Vielfaches verstärkt. Geht es deutschlandweit um „nur“ sechs von 299 Wahlkreisen, ist in Berlin die Hälfte aller Stimmbezirke betroffen.

Eigentlich müßte sich die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, nun an die Spitze der Bewegung stellen und alles für Neuwahlen tun. Ihr Vorteil wäre, im September 2021 noch keine Verantwortung in der Hauptstadt getragen zu haben. Sie könnte also unbelastet agieren. Doch sie sagt lapidar: „Ich gehöre nicht zu denen, die sich jetzt schon Gedanken über den nächsten Wahlkampf machen.“ Offenbar hofft sie, das Problem aussitzen zu können.

Doch wird der Berliner Verfassungsgerichtshof nach den Aussagen des Bundeswahlleiters vielleicht doch genauer auf die Umstände des Urnengangs schauen. Sollte dessen Präsidentin, die ihr Amt der Berliner SPD verdankt, dies nicht gewissenhaft tun, steht schließlich auch die Glaubwürdigkeit der Justiz auf dem Spiel. Leider spricht einiges dafür, daß eine unabhängige Überprüfung nicht wirklich gewünscht ist oder zumindest auf Zeit gespielt wird. Obwohl alle Unterlagen seit Monaten vorliegen, will das oberste Hauptstadtgericht erst im Herbst mit den Anhörungen beginnen. Dann wäre mehr als ein Jahr vergangen. Dabei ist, um Schaden abzuwenden, absolute Eile geboten. Offenbar genießt eine mutmaßliche Wahlfälschung keine allzu hohe Priorität in der Hauptstadt.

Zu Giffeys Nachteil könnte das deutschlandweite Stimmungstief der SPD werden. Aber mit Verlaub, das darf kein Argument sein. An der Sozialdemokratin, der bereits der Doktortitel aberkannt wurde, klebt nämlich schon jetzt ein weiterer Makel. Giffey – soviel scheint sicher – ist nicht auf legale Weise ins Amt gekommen. Denn als einziges Kriterium dafür gilt in Deutschland immer noch eine demokratisch legitimierte Wahl, auch wenn Thüringen bereits als Gegenbeispiel dient. Dort regiert seit mehr als zwei Jahren ein rot-rot-grünes Kabinett, das der Bürger deutlich abgewählt hatte. Ein Menetekel?

Zurück zur Bundestagswahl: Daß die Linkspartei nachträglich aus dem Bundestag fliegt, scheint nun übrigens ausgeschlossen. Sie sitzt dort zwar nur, weil sie insgesamt drei Direktmandate errang. Zwei davon liegen in Berlin. Die Fünfprozenthürde hatte die Partei verfehlt. Allerdings gehören die Berliner Wahlkreise, in denen sie siegreich war, nicht zu den vom Bundeswahlleiter monierten.

Fehler können passieren – auch wenn sie in diesem Ausmaß wie bei den Wahlen in Berlin nur in einem „failed state“ üblich sind. Da sie sich nicht mehr ungeschehen machen lassen, kommt dem Umgang damit eine zentrale Bedeutung zu. Einen – wenn auch sehr späten – Anfang hat der Bundeswahlleiter gemacht. Exekutive, Legislative und Judikative – also alle drei Gewalten des demokratischen Rechtsstaates – stehen nun in der Pflicht. Wahlen sind Grundlage und Voraussetzung einer Demokratie. Das sollten alle Verantwortlichen wissen. Handeln sie nicht entsprechend, zerstören sie die wichtigste Legitimation des politischen Systems.