© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

„Kurzfristig hilft nur, zu sparen“
Krise: Kann die nun angekündigte Zinswende der EZB die Inflation stoppen? Österreichs Nationalbank-Vizepräsidentin Barbara Kolm warnt vor zu großen Hoffnungen und der Wiederholung fataler Fehler
Jörg Fischer / Moritz Schwarz

Frau Vize-Präsidentin, US-Notenbank und die Bank von England haben wegen der Inflation bereits die Zinsen erhöht, nun will die EZB im Juli folgen. Richtig so? 

Barbara Kolm: Unbedingt, denn je mehr die Inflation außer Kontrolle gerät, desto schwerer ist es, sie wieder einzufangen. Ob die EZB tatsächlich im Juli nachzieht, hängt wohl von drei Faktoren ab: von der Entwicklung der Wirtschaft in den USA und in Großbritannien – nun da dort der Zins erhöht wurde –, von der wirtschaftlichen Auswirkung des Ukraine-Kriegs sowie von den Problemen bei den weltweiten Lieferketten.

Wie zuversichtlich sind Sie?

Kolm: Obwohl sich letztere mit den Lockdown-Entscheidungen in China wieder zu verschärfen drohen, bin ich zuversichtlich, daß es klappt.

Warum erst im Juli und nicht im Juni, wenn die Leitzinserhöhung doch so wichtig ist?

Kolm: Das wäre natürlich noch besser – doch dauert es eben, bis alles Administrative erledigt ist, so daß es wohl Juli werden wird. Das Entscheidende aber ist das Signal an die Märkte, daß nach elf Jahren die Zinsen wieder steigen!

Wie geht das vor sich? 

Kolm: Wahrscheinlich sind behutsame Anhebungen von jeweils 0,25 bis 0,5 Prozentpunkten, um die Wirkung beobachten zu können.  

Das finnische EZB-Mitglied Olli Rehn hat versprochen, „die Geldpolitik wieder zu normalisieren – wenn uns der Ukraine-Krieg nicht wieder zurückwirft“. Welcher Zinssatz ist denn „normal“? 

Kolm: Tja, die Frage ist, was man als normal definiert. Der sogenannte „natürliche Zins“ etwa liegt derzeit aller Voraussicht nach bei 1 bis 1,5 Prozent.

Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, spricht von über zwei Prozent bis 2023, um „die Inflation mittelfristig wieder unter Kontrolle zu bringen“. Warum dauert das so lange?

Kolm: Man muß bedenken, daß wir in einer Situation sind, die noch problematischer ist als die nach der Inflation infolge der ersten Ölkrise von 1973/74. Und das nicht nur aufgrund der geopolitischen Situation, sondern auch wegen der Schuldenquoten, der Abhängigkeit der Wirtschaft von billigem Geld und der Fragilität der Energieversorgung als Folge der „Green Transition“, also des Übergangs zu erneuerbaren Energien – die zwar dringend nötig ist, aber logischerweise Zeit braucht. Ob eine völlige Normalisierung der Geldpolitik also zeitnah politisch realistisch ist, bleibt abzuwarten. 

Immer mehr Ökonomen warnen vor einer „Stagflation“, wie damals nach der Ölkrise. Sprich gleichzeitiger Stagnation und Inflation, also: null Wachstum plus Inflation und Arbeitslosigkeit. Aber ist das nicht übertrieben, denn zwar ist die Inflation heftig, doch diverse Milliardenprogramme auf EU- und nationaler Ebene sorgen ja für Wachstum und Beschäftigung – und nach zwei Jahren Corona gibt es, etwa im Tourismus, großen Nachholbedarf. Wie groß ist die Stagflationsgefahr also tatsächlich? 

Kolm: Die moderaten Wachstumsraten, die derzeit noch prognostiziert werden, basieren wesentlich auf statistischen Effekten, die sich aus dem Vergleich mit dem durch Lockdowns geprägten Vorjahr ergeben. Die Arbeitslosigkeit ist zwar – noch – niedrig, was übrigens auch Folge der Milliardenprogramme ist. Doch darf nicht vergessen werden, daß Beschäftigung nicht notwendigerweise Wachstum schafft – und ob die Milliardenprogramme zu solchem führen werden, wird sich weisen. Allerdings führen sie durch gesteigerte makroökonomische Nachfrage zu einer Verschärfung der Inflationssituation. Was wiederum zu erhöhter wirtschaftlicher Unsicherheit führt, die die Arbeitslosigkeit erhöhen kann. 

Schafft eine Zinserhöhung nur einen Ausgleich zur Inflation oder wirkt sie dieser auch entgegen?

Kolm: Möglichst einfach erklärt: Zins ist quasi der Preis des Geldes – und steigt der, schafft das Vertrauen, was der Inflation wiederum entgegenwirkt. Da die ja vom Mißtrauen der Marktteilnehmer, daß alles immer weniger wert wird, angetrieben wird. 

Stoppen kann er sie aber nicht?

Kolm: Nein, der Leitzins alleine vermag das natürlich nicht, dazu sind weitere Maßnahmen nötig.

Nämlich?

Kolm: Insbesondere eine sogenannte Sound-Money-Policy – also eine „Politik des gesunden Geldes“ – was vor allem bedeutet, die Geldmenge kontrolliert zu halten und nicht zu groß werden zu lassen, was zu einer gewissen Inflationsresistenz führt. Sowie, ganz wichtig, die Trennung zwischen Geldpolitik und Fiskalpolitik, sprich: Frankfurt wieder Frankfurt und Brüssel Brüssel sein zu lassen!

Heißt, „Frankfurt“, also die EZB, soll wieder für Geldwertstabilität sorgen, statt „Brüssel“, also der Politik, zu dienen. Schön wär’s! Aber ist das nicht unrealistisch? 

Kolm: Ich werde weiter dafür eintreten, den Irrtum aufzuklären, daß Geldpolitik etwas mit Politik im herkömmlichen Sinne zu tun hat – also etwa mit Opportunität oder Mehrheiten. Denn im Gegensatz zur Fiskalpolitik darf Geldpolitik eben nicht von Politikern, sondern muß von Experten gemacht werden! Sonst werden sich die geld- und wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen der Vergangenheit wiederholen, erneut die Ersparnisse der Bürger zerstört und folglich auch die Investitionen und damit die Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung – sowie die Inflationsgefahr steigen.

Wegen der Inflation können laut eigenen Angaben über 15 Prozent der Deutschen kaum noch ihre Lebenshaltungskosten bestreiten. Was sollen Bürger tun, die schon jetzt oder bald finanziell nicht mehr mithalten können?

Kolm: Wir müssen zunächst erkennen, daß nicht etwa gierige Unternehmen verantwortlich für die steigenden Preise sind. Das ist wichtig, um die tatsächlichen Ursachen zu sehen und richtig reagieren zu können. Verantwortlich ist vielmehr die lose Geldpolitik der letzten Jahre sowie die Lockdownpolitik, die zum Abreißen von Lieferketten und Angebotsengpässen geführt hat. Für eine mittelfristige Verbesserung der Lage müssen die Bürger ein Ende der losen Geldpolitik sowie ein Ende der wirtschaftlichen Einschränkungen aufgrund der Pandemie einfordern! Mittelfristig hilfreich ist auch das Senken öffentlicher Ausgaben – weil so der makroökonomische Inflationsdruck gemildert wird –, sowie die wirtschaftliche Unsicherheit zu verringern, weil das die Notwendigkeit hoher Lagerstände von Vorprodukten mindert. Kurzfristig gibt es dagegen wahrscheinlich leider nur die Möglichkeit, nach Substitutionsgütern Ausschau zu halten, also die eigenen Lebenshaltungskosten durch Umsteigen auf billigere Güter abzusenken.

Sie haben das Thema Geldmenge schon angesprochen: Die wurde durch die Finanzkrise 2008/09, die Euro-Krise ab 2011 und die Lockdownpolitik weltweit enorm ausgedehnt – aber dennoch gab es kaum Inflation! Mal ehrlich, liegt es also nicht weniger an dieser als am Ukraine-Krieg, den Rußland-Sanktionen, den gekappten Lieferketten und der Energiepreisrallye? 

Kolm: Auslöser der Inflation ist tatsächlich nicht direkt die Geldmengenausweitung. Indirekt aber ist sie der Hauptgrund dafür, daß diese außer Kontrolle zu geraten droht. Der tatsächliche Auslöser sind in der Tat die gesunkene Angebotsmenge infolge vor allem der Lockdownpolitik, aber auch der Energiepolitik. Diese Angebotsknappheit sorgt auf verschiedenen Wegen für hohe Preissteigerungen – die durch hohe staatliche Ausgaben und damit eine hohe zusätzliche Nachfrage weiter verschärft werden. Der Geldüberhang, der in den vergangenen Jahren geschaffen wurde, wird nun vermehrt sozusagen „nachfrageaktiv“ – weil in einer Situation stark ansteigender Preise die Bereitschaft abnimmt, Geld zu halten. Insofern sorgt die gestiegene Geldmenge für eine Verschärfung der Inflation.

Ab wann rechnen Sie mit deren Rückgang, erst ab 2023 wie der Chefvolkswirt der Deutschen Bank?

Kolm: Das kommt auf die Schritte an, die in den nächsten Monaten gesetzt werden. Werden keine Schritte gemacht, rechne ich in nächster Zeit auch nicht mit einem nachhaltigen Sinken der Inflation.

Wie soll die EZB reagieren, geht die Inflation in die nächste Phase, nämlich wenn es nach der jetzigen Energiepreisinflation bei anziehendem Wirtschaftswachstum zu einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale kommt?

Kolm: Die Lohn-Preis-Spirale kann nur dann außer Kontrolle geraten, wenn die EZB die Geldmenge immer weiter ausweitet. Wenn also die Inflationserwartung steigt und die Gewerkschaften zum Ausgleich höhere Löhne fordern, ist es um so wichtiger, die Geldmenge nicht zu vergrößern – ja besser zu senken, um die Inflationserwartungen zu dämpfen. Die richtige Reaktion der EZB wäre also, wie ich schon dargestellt habe, eine restriktive Geldpolitik.

Droht die Leitzinserhöhung nicht Euro-Krisenstaaten ins Schlingern zu bringen? Dann „müßte“ die EZB den Zins wieder senken. Und die Euro-Krise könnte – vielleicht sogar schlimmer als 2011, da die Staatsverschuldung zwischenzeitlich gestiegen ist – zurückkommen. 

Kolm: Eben deshalb hat die EZB den Leitzins ja so lange so niedrig gehalten – um den Ländern die Zeit zu geben, sich zu refinanzieren.

Die allerdings schon in früheren Fällen ... 

Kolm: ... ungenutzt verstrichen ist, ich weiß. Aber Griechenland zum Beispiel hat mittlerweile, unter der jetzigen konservativen Regierung, seine haushalterischen Hausaufgaben doch noch gemacht und auf langfristige Finanzierung umgestellt. Es wird also von der Zinserhöhung weniger betroffen sein als Staaten, die das noch nicht getan haben.    

Sie meinen etwa Frankreich, Italien oder Portugal? 

Kolm: Ich glaube, alle haben begriffen, wie wichtig strukturelle Reformen sind. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. 

Woran liegt es, daß die Preise so unterschiedlich steigen? Laut Eurostat für das Jahr 2022 in Frankreich am wenigsten mit im Schnitt „nur“ 5,8 Prozent, im Baltikum, Griechenland und Holland dagegen zweistellig. Während die Bundesrepublik und Österreich mit 8,7 und 8,1 Prozent im Mittelfeld liegen.  

Kolm: Diese riesigen Unterschiede erklären sich durch eine unterschiedliche Struktur der Wirtschaften, Handelsabhängigkeiten, Unterschiede bei der Schnelligkeit von Anpassungsprozessen sowie der Erhebung von Inflationsdaten.

Zum Beispiel? 

Kolm: Holland etwa erhebt die Inflation im Bereich Energie so, als würde jeden Monat ein neuer Vertrag mit den Energielieferanten geschlossen. Damit bilden sich Energiepreiserhöhungen in der Inflationsrate schneller ab als in anderen Ländern. Für Unterschiede bei der Schnelligkeit von Anpassungsprozessen spricht, daß der Produzentenpreisindex und der Großhandelspreisindex – beides Frühindikatoren für die Entwicklung der Verbraucherpreise – im Ländervergleich weniger drastische Unterschiede aufweisen als der Verbraucherpreisindex.

Was ist mit dem geplanten Euro-Beitritt der ökonomisch schwachen Länder Kroatien und Bulgarien – ist dieser angesichts der Erfahrung mit Griechenland und Co. wirklich eine gute Idee? 

Kolm: Grundsätzlich spricht nichts gegen einen Beitritt ökonomisch schwacher Staaten – wenn sie bereit sind, notwendige Reformen durchzuführen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen.

Tja, wenn ... Auch das haben wir in der Vergangenheit ja ganz anders erlebt.

Kolm: Deshalb ist vielleicht noch wichtiger: Es muß den Willen und die Mittel geben, ausbleibende Reformen zu sanktionieren! Generell gilt: Die Euro-Zone sollte zeitnah an ihren Institutionen arbeiten und diese krisenresistenter machen. 

Noch eine Frage, die viele umtreibt: Etliche Euro-Länder haben ein Limit für Barzahlung eingeführt. Und während es in der Schweiz noch eine 1.000-Franken-Note gibt – inzwischen 973 Euro wert –, gibt es bei uns nicht einmal mehr den 500-Euro-Schein. Mancher sieht das als Auftakt zur langsamen Bargeldabschaffung. Wie lange werden wir noch so bezahlen können?

Kolm: Bar zu bezahlen ist ein hohes Gut – und eine Ausprägung von Freiheit im Bereich des Geldes. Dessen Abschaffung öffnet Tür und Tor für lückenlose Kontrolle von Transaktionen sowie staatliche Willkür bei Enteignung und Beschlagnahme. Auch ist die Entwicklung eines Social-Credit-Systems in China in diesem Zusammenhang besorgniserregend. Ich hoffe daher sehr, daß die Bürger auch in Zukunft auf das Recht, bar zu bezahlen, bestehen werden! 






Dr. Barbara Kolm, die Ökonomin, Unternehmensberaterin und ehemalige FPÖ-Politikerin ist Vizepräsidentin der Österreichischen Nationalbank, Mitglied des Rates der Wiener Wirtschaftsuniversität, Präsidentin des Austrian Economic Centers sowie des „Friedrich August v. Hayek“-Instituts in Wien und Stanford. Geboren wurde die Betriebswirtin 1964 in Innsbruck.

 www.barbara-kolm.at

Foto: Bürger in Geldnot: „Auslöser der Preissteigerung ist die gesunkene Angebotsmenge vor allem durch die Lockdown- und Energiepolitik – und nicht direkt die Geldmengenausweitung der EZB, die aber für eine Verschärfung der Inflation sorgt ... Was die Bürger daher einfordern müssen, ist ein Ende der losen Geldpolitik sowie der wirtschaftlichen Einschränkungen aufgrund der Pandemie“