© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Thiels Einlauf
Berlin-Chaos: Der Wahlleiter fordert eine Wiederholung des Urnengangs
Peter Möller

Es klingt wie die gekonnt gesetzte Schlußpointe in einem an absurden Höhepunkten reichen Schelmenstück mit dem Titel „Wahlen in Berlin“. Sollten angesichts der massiven Unregelmäßigkeiten bei der Bundestagswahl und dem Urnengang zum Berliner Abgeordnetenhaus am 26. September vergangenen Jahres in der Hauptstadt Neuwahlen erforderlich sein, könnten diese am Papiermangel scheitern. 

Denn für die notwendigen Wahlbenachrichtigungen an drei Millionen Berliner Haushalte fehlt es nach Recherchen der Bild-Zeitung an ausreichend Papier. Angesichts der knappen Fristen bei einer erforderlichen Wahlwiederholung und der derzeit angespannten Lage auf dem Papiermarkt, die schon im Zuge der geplanten Corona-Impfpflicht und der Sozialleistungen für Flüchtlinge aus der Ukraine ein Thema gewesen seien, gebe es Zweifel, ob eine reibungslose Organisation einer Nachwahl überhaupt möglich sei.

Daran, daß eine Wiederholung der Bundestagswahl zumindest in einigen Berliner Wahlkreisen unumgänglich ist, ließ Bundeswahlleiter Georg Thiel in der vergangenen Woche bei der mündlichen Verhandlung über seinen Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl im Wahlprüfungsausschuß des Bundestags keinen Zweifel. „So etwas darf sich nicht wiederholen.“ Es handle sich um systematisches Versagen der Wahl-Organisation und nicht um Einzelfälle. Dabei gehe es doch „um die Bundeshauptstadt eines zivilisierten Landes“. Solche Probleme habe es in der Bundesrepublik noch nie gegeben – nicht in München, Hamburg oder Köln. In zahlreichen Wahllokalen Berlins hatten sich am 26. September chaotische Szenen abgespielt (JF 43/22). Die zuständigen Behörden für die Organisation der Mehrfachwahl (neben Bundestag und Abgeordnetenhaus wurden auch die Bezirksvertretungen gewählt und über den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ abgestimmt), die auch noch zeitgleich zu einem Marathon stattfanden, waren offenbar völlig überfordert. So waren lange Schlangen vor den Wahllokalen, zu kleine Räume, zu wenige aufgestellte Wahlkabinen und Wartezeiten von einer Stunde und mehr noch die harmlosesten Auswirkungen des Chaos’. Weit schwerer wiegt, daß in einigen Wahllokalen die Stimmzettel ausgingen und Bürger, die wählen wollten, wieder nach Hause geschickt wurden. In mehreren Fällen wurden zudem Wahlzettel aus einem anderen Wahlbezirk ausgegeben.

Die zuständige Berliner Landeswahlleitung ist sich der Fehler mittlerweile durchaus bewußt. Die stellvertretende Wahlleiterin Ulrike Rockmann beteuerte in der vergangenen Woche bei der Bundestags-Anhörung, sie wolle „in keinster Weise entschuldigen, was passiert ist“. Doch darüber, welche Konsequenzen aus den Wahlfehlern gezogen werden müssen, gab es kein Einvernehmen zwischen dem Bundeswahlleiter und seiner Berliner Kollegin. Während Thiel zahlreiche und schwerwiegende Verstöße gegen das Bundestagswahlrecht in sechs der zwölf Berliner Wahlkreise beklagt und fordert, die Bundestagswahl in diesen Wahlkreisen zu wiederholen, sieht Rockmann dafür keinen Anlaß. Insbesondere die Frage, welche Auswirkungen es hatte, daß einige Wahllokale aufgrund der Pannen auch nach 18 Uhr geöffnet hatten, blieb in der Anhörung offen.

„Daß Berlin Wahlen nicht kann, ist eine zu harsche Kritik“

Zentraler Streitpunkt in der Auseinandersetzung um die verpatzte Wahl in Berlin ist die Frage, inwieweit die dokumentierten Fehler „mandatsrelevant“ sind, also die Vergabe der Abgeordnetenmandate für den Bundestag beziehungsweise das Abgeordnetenhaus beeinflußt haben. Thiel ist im Gegensatz zu Rockmann von der Mandatsrelevanz überzeugt: So sei etwa im Wahlkreis Reinickendorf der Erststimmen-Vorsprung für die Gewinnerin des Direktmandates, Monika Grütters (CDU), so knapp, daß er auf eine Panne zurückzuführen sein könnte. In den Wahlkreisen Mitte, Pankow, Reinickendorf, Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf und Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost sei es zudem möglich, daß auch das Zweitstimmen-Ergebnis mandatsrelevant verfälscht worden sei. Das könnte Folgen haben: Hätte die SPD mindestens 802 Zweitstimmen mehr erhalten, hätte sie einen Sitz mehr im Bundestag errungen.

Darüber, ob die Bundestagswahl in Berlin zumindest teilweise wiederholt werden muß, entscheidet der Bundestag aller Wahrscheinlichkeit nach erst nach der Sommerpause. Gegen die dann getroffene Entscheidung ist Einspruch vor dem Bundesverfassungsgericht möglich. Darüber, welche Auswirkungen das Chaos am 26. September auf die Abgeordnetenhauswahl hat, entscheidet der Berliner Verfassungsgerichtshof, der sich derzeit nach einer Klage des früheren Abgeordnetenhausmitglieds Marcel Luthe (JF 45/21) durch 25.000 Seiten mit den Protokollen aus allen 2.257 Berliner Wahllokalen arbeitet, in denen Hunderte Wahlhelfer die Ereignisse am Wahltag dokumentiert haben. Mittlerweile liegt den Richtern auch eine 20seitige Stellungnahme der stellvertretenden Landeswahlleiterin Rockmann vor. Ende September will das Gericht mündlich über die Beschwerden an der Organisation der Wahlen verhandeln. Gegen das Urteil des Verfassungsgerichtshofes ist kein Widerspruch möglich.

Der Berliner Senat hat also noch bis zum Spätsommer Zeit, für den Fall der Fälle ausreichend Papier zu organisieren. Derweil gibt sich Vize-Wahlleiterin Rockmann trotzig. „Sicherlich hat es den einen oder anderen auch schweren Fehler gegeben“, sagte sie dem RBB. „Aber daß Berlin Wahlen nicht kann, das ist eine zu harsche Kritik.“

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