© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Mehr grarz als schwün
Koalitionsverhandlungen: Die Christdemokraten setzen auf Partnertausch
Jörg Kürschner

Weniger als neun Monate nach der krachend verlorenen Bundestagswahl sucht die Wahlgewinnerin CDU in den Ländern demonstrativ den Schulterschluß mit den erstarkten Grünen. Nach Hessen und Baden-Württemberg dürften bald auch in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein schwarz-grüne – beziehungsweise im Südwesten grün-schwarze – Koalitionen gebildet werden. Von lagerübergreifenden Bündnissen schwärmt man in der CDU, der jahrzehntelang „geborene“ Koalitionspartner, die FDP, wird fallengelassen. Zusammenarbeit wird den „demokratischen Parteien“ im Landtag angeboten, was auf eine weitere Ausgrenzung der AfD hindeutet.

„In der Versöhnung von vermeintlichen Gegensätzen liegt die Kraft für unsere Zukunft“, heißt es in dem von Gremien beider Parteien einstimmig verabschiedeten Sondierungspapier von CDU und Grünen in Düsseldorf, die bereits über eine Koalition verhandeln.  „Vermeintlich“? Also gibt es offenbar keine Gegensätze zwischen den beiden Parteien? Jedenfalls liest sich das 12seitige Papier wie die Rohfassung eines Grünen-Wahlprogramms, dem aus wahltaktischen Gründen noch einige althergebrachte Grundüberzeugungen hinzugefügt worden sind.

Die FDP verschwindet aus zwei Landesregierungen

Beispiel Wirtschaft. Die Bedeutung des Mittelstands, der Betriebe, für Wohlstand und Beschäftigung wird in dem Papier glatt unterschlagen. Dafür müssen sich die Unternehmen an Rhein und Ruhr darauf einstellen, daß auch auf Gewerbeflächen Windkraftanlagen gebaut werden. Landesweit sollen es in den nächsten fünf Jahren „mindestens 1.000 zusätzlich“ sein. „Die Abschaffung der pauschalen Abstandsregelung sei notwendig.“ Denn NRW soll „zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas“ werden. In der Solarenergie sollen „sämtliche für Photovoltaik geeignete Flächen“ genutzt werden. Das Thema Klimaschutz durchzieht die Vereinbarung wie ein grüner Faden. Dafür werden strittige Ziele formuliert, etwa der Kohleausstieg bis 2030, der gemäß Bundesgesetz spätestens für 2038 vorgesehen ist. Nordrhein-Westfalen soll „Vorreiter bei Umwelttechnologien, Ressourceneffizienz und Kreislaufwirtschaft“ werden. Für nachhaltiges Wirtschaften kommt es nach den Vorstellungen von Schwarz-Grün weniger auf den Straßenverkehr als auf den öffentlichen Verkehr an, das „Rückgrat der zukünftigen nachhaltigen und vernetzten Mobilität“. Beim Straßenbau geht Sanierung vor Neubau, die Mittel will man „mindestens verstetigen“, also Sparflamme im verkehrsreichen Ruhrgebiet.

Wenn sich Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und die grüne Unterhändlerin Mona Neubaur einigen, werden die Grünen wie die SPD in elf von 16 Landesregierungen mitreden. Zum Vergleich: Die Union sitzt in acht Kabinetten mit am Tisch, dreimal als Juniorpartner. In Düsseldorf ist die Ökopartei die einzige realistische Koalitionsperspektive der CDU. Schwarz-Gelb hat keine Mehrheit mehr. Einen Innenminister haben die Grünen noch nirgendwo gestellt, was auf ihre Distanz zu Sicherheit und Ordnung hinweist. In NRW dürfte CDU-Ressortchef Herbert Reul als wesentliche Stütze des Kabinetts im Amt bleiben, muß aber grüne Kröten schlucken. Ein „unabhängiger Polizeibeauftragter“ hochrangig angesiedelt im Landtag, wird mißtrauisch darüber wachen, daß sich kein Demonstrant ungerecht behandelt fühlt. Beeindruckt hat die  schwarz-grünen Unterhändler offenbar Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), denn sie übernehmen wörtlich deren Einschätzung: „Der Rechtsextremismus ist derzeit die größte Gefahr für unsere Demokratie“. Und der Linksextremismus? Taucht im Sondierungspapier nicht auf. Ebensowenig wie die Kriminalität arabischer Clans, die im Ruhrgebiet manche Stadtteile in Angst und Schrecken versetzen. Eine Abschiebung abgelehnter Asylbewerber gilt als Ultima ratio, denn „NRW ist ein weltoffenes Einwanderungsland“. Es versteht sich, daß „auch das queere Leben“ dort gestärkt werden soll.

Das Schicksal des bevölkerungsreichsten Landes liegt 2027 auch in den Händen von Wählern ab 16 Jahren. Die Herabsetzung des aktiven Wahlrechts soll per Verfassungsänderung durchgesetzt werden; eine Trophäe für die Grünen mit ihrem regelmäßig hohen Stimmanteil bei den Erstwählern. So sieht parlamentarische Zukunftssicherung aus. Parallel zu den Gesprächen im Westen verhandelt im hohen Norden CDU-Wahlsieger Daniel Günther, ein Exponent der Merkel-Ära, mit den Grünen über eine Koalition. Wie in Düsseldorf stehen auch in Kiel die Zeichen auf Schwarz-Grün. Hoffnungen der FDP auf ein rechnerisch mögliches schwarz-gelbes Bündnis wurden enttäuscht. Eine Richtungsentscheidung, die auch der Bundes-FDP zu denken gibt. 

Denn deren parlamentarische Basis in den Ländern schrumpft mit dem Regierungsverlust in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. In Rheinland-Pfalz und in Sachsen-Anhalt nur noch als fünftes Rad am Regierungswagen sind die Liberalen mit von der Partie. Die CDU betreibe „Machtsicherung in lagerübergreifenden Koalitionen“, heißt es in der FDP-Parteizentrale. Als Gegenmodell zur Ampel in Berlin? Kritik an der „Ergrünung“ der CDU gibt es parteiintern kaum. Nur Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer warnt: „Da wird ein grünes ideologisches Programm aus Jahrzehnten jetzt versucht abzuarbeiten.“ Schon richten sich die Blicke auf Niedersachsen, das (noch) von einer Großen Koalition regiert wird. Am 9. Oktober wird dort der Landtag neu gewählt.