© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Ein lebendiger Mythos
Der Ukraine-Krieg und das Regiment Asow: Die letzten Verteidiger Mariupols hatten früher auch Rechtsextremisten in ihren Reihen. Bis heute wird NS-affine Symbolik benutzt
Paul Leonhard / Christian Rudolf

Für die Ukraine sieht es im Moment nicht wirklich gut aus. Nach dem Fall von Mariupol, der strategisch und wirtschaftlich wichtigen Hafenstadt am Asowschen Meer, droht bereits ein neues „Mariupol“. Die Lage im Osten sei „unbeschreiblich schwierig“, äußerte Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj am Wochenende. Von einer „extremen Eskalation“ der Lage rund um Sjewjerodonezk sprach der Gouverneur der Verwaltungseinheit (Oblast) Luhansk. Nach seinen Angaben ist die 100.000-Einwohner-Chemiestadt nordwestlich der Bezirkshauptstadt Luhansk zu zwei Dritteln vom Feind umstellt, steht unter Dauerbeschuß der gefürchteten russischen Raketenartillerie (siehe auch Seite 8). In der Innenstadt werde heftig gekämpft, meldet die Ukrajinska Prawda am Dienstag vormittag. 90 Prozent der Gebäude von Sjewjerodonezk seien beschädigt, mehr als zwei Drittel der Wohnbebauung zerstört, räumte Selenskyj ein. Die Nachbarstadt Lysytschansk westlich des Flusses Siwerskyj Donez mit ebenfalls vormals 100.000 Einwohnern ist, so zeigen es aktuelle Filmaufnahmen, vielfach zerstört und beinahe menschenleer, die Bewohner geflohen, aus Angst vor den Raketen und den feindlichen Soldaten. Das Morden im Kiewer Vorort Butscha steht hier jedem vor Augen. Die Zwillingsstädte liegen im letzten westlichen Zipfel der ukrainischen Oblast Luhansk, der noch unter der Kontrolle Kiews steht. Die Gefahr von deren Einkreisung durch russische und verbündete Separatistentruppen ist ganz real.

Die russischen Angreifer wenden in Sjewjerodonezk das taktische Mittel an, das schon in Mariupol gefruchtet hat – nach der „Methode“ Grosny oder Aleppo Wohnblock für Wohnblock, Stadtviertel für Stadtviertel durch Bomben und Artillerie in schwarzverbrannte Ruinen verwandeln. Die noch ausharrenden etwa 15.000 Zivilisten können unter Gefahr nur über die gut ausgebaute Schnellstraße T1302 nach Bachmut in der angrenzenden Oblast Donezk evakuiert werden. Die „Straße des Lebens“ wurde von ukrainischen Kräften wieder freigekämpft und einige Tage vergleichsweise wenig beschossen. Wer will und kann, nimmt Schleichwege über die Dörfer. Und dann nur weiter nach Westen. Denn auch aus dem Raum Bachmut werden Angriffe am Boden gemeldet.

Wie die Leichen der Bombentoten in Sjewjerodonezk geborgen werden sollen, ist unklar, zu unübersichtlich die Lage. Dem Oberhaupt des nur von Moskau anerkannten Luhansker Separatistengebiets Leonid Pasitschnyk zufolge wird die Stadt am Dienstag bereits zu einem Drittel von russischer Armee kontrolliert. Pasitschnyk hatte sich 2017 in Luhansk an die Macht geputscht und ist inzwischen Mitglied der Putin-Unterstützungspartei „Einiges Rußland“. Sollte es den Eindringlingen gelingen, den Ring um die beiden Industriestädte zu schließen, könnte der Kreml nach dann über 100 Tagen Kampf bald den bisher bedeutendsten Sieg im Krieg gegen den Nachbarn Ukraine vermelden.

Kommandeur Denys Prokopenko ist „Held der Ukraine“

Ukrainische Männer und Frauen zeigen an allen Frontabschnitten dieses ungleichen Krieges Mut, Können und Entschlossenheit. Doch in Sjewjerodonezk und Lysytschansk gibt es keine so symbolisch aufgeladenen Verteidiger, wie es sie in Mariupol gegeben hatte. Die Kämpfer des schillernden Regiments der ukrainischen Nationalgarde „Asow“ hatten sich mit größter Tapferkeit gemeinsam mit Soldaten der 36. ukrainischen Marineinfanteriebrigade, bis es nicht mehr ging, im dadurch berühmt gewordenen Metall-Kombinat „Asow-Stahl“ gegen eine feindliche Übermacht verschanzt – und dadurch russische Kräfte gebunden. Präsident Selenskyj verlieh kürzlich dem Asow-Kommandeur Denys Prokopenko, einem Oberstleutnant der Nationalgarde, die höchste staatliche Auszeichnung: Held der Ukraine.

Der sonst nicht sparsam bestückte Telegram-Kanal der Asow-Kämpfer hat seinen letzten Eintrag am Freitag, dem 20. Mai. Es ist der Tag der Kapitulation von Mariupol und der Tag der Kapitulation von Asow. Der bärtige, ein olivgrünes T-Shirt tragende, 30 Jahre alte Kommandeur Prokopenko schickt eine 43sekündige Videobotschaft. „Die Armeeführung hat den Befehl gegeben, die Verteidigung der Stadt einzustellen.“ Prokopenkos letzte Worte: „Ruhm der Ukraine.“ Dann endet jegliche Übermittlung. Es folgt der bittere Weg in ungewisse russische Kriegsgefangenschaft.

Seit dem 16. Mai sollen insgesamt 2.439 ukrainische Soldaten aus dem Stahlwerk in russische Kriegsgefangenschaft geraten sein, am 20. Mai eine letzte Gruppe von 531 Verteidigern. So lauten die Angaben aus Moskau. Das Stahlwerk war seit dem 21. April von russischen Truppen belagert und bombardiert worden.

Die seitdem in der Trümmerlandschaft des Stahlwerks in einem 24 Kilometer langen, mehretagigen Tunnelsystem ausharrenden Kämpfer des Asow-Regiments hatten Angst vor den russischen Eroberern. Und diese scheint begründet. Denn die Freiwilligenformation gilt dem Kreml und seinen Lautverstärkern als bewaffnete Sperrspitze der Neonazi-Bewegung in der Ukraine.

Moskau hatte zwar am 22. April, wie bereits einen Monat zuvor, verbal seine Bereitschaft zu einer Feuerpause erklärt, während der ein sicherer Ausweg für die ukrainischen Verteidiger und die Zivilisten gesucht werden könne. Die Soldaten sollten „Garantien“ erhalten, daß sie nicht getötet würden, gleichzeitig wurden aber Untersuchungen angekündigt, ob sich speziell Angehörige der Asow-Einheiten an Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hätten. Es gibt noch etliche ungeklärte Fälle, dokumentierte Morde, Vergewaltigungen und Mißhandlungen von gegnerischen Soldaten sowie Zivilisten, wenn auch nicht aus jüngster Zeit.

Ungesühnt ist beispielsweise noch ein Vorfall von 2014, bei dem einer Frau von Mitgliedern des damaligen Asow-Freiwilligenbataillons Hände und Füße mit Kabelbindern gefesselt und diese dann stundenlang gefoltert wurde: mit Gewehrkolben geschlagen, Nadeln unter die Nägel getrieben. Der Fall ist im Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) ebenso registriert wie die Gruppenvergewaltigung eines Mannes mit geistiger Behinderung oder die Folterung eines Ukrainers 2015 mittels Stromschlägen und Waterboarding. Auch aus den Folgejahren wurden Menschenrechtsverletzungen bekannt, so die gewaltsame Vertreibung von Angehörigen der Roma-Minderheit durch Mitglieder der „Misanthropic Division“. Diese paramilitärische Einheit, die das Abzeichen der Waffen-SS-Division „Totenkopf“ trägt, wurde später in das Asow-Bataillon eingegliedert.

Die Rolle der Asow-Einheiten war bis zu dem russischen Überfall selbst in der Ukraine umstritten. Auch wenn die Freiwilligen im Mai/Juni 2014 als Teil der ukrainischen Anti-Terror-Operation (ATO) entscheidend dazu beitrugen, daß Mariupol den prorussischen Separatisten entrissen und wieder unter ukrainische Kontrolle gebracht wurde, schreckte viele liberale Ukrainer die Nähe der Soldaten zum Nationalsozialismus, dessen Symbole mehr oder weniger offen gezeigt wurden, ab. So existiert ein Foto von Juli 2014, das Asow-Soldaten auf ihrem Stützpunkt im Dorf Ursuf am Asowschen Meer mit Hakenkreuz und der Fahne der im Zweiten Weltkrieg gegen Sowjets und Polen kämpfenden Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) zeigen. Zwar hat sich das Regiment im Sommer 2015 von der „Schwarzen Sonne“ als Abzeichen, einem international genutzten Erkennungsmerkmal der Neonazi-Szene, getrennt, nutzt aber weiterhin die schwarze Wolfsangel (N mit Strich), das einstige Symbol der Waffen-SS-Division „Das Reich“ beziehungsweise die von der SS-Verfügungsdivision genutzte blaue Wolfsangel auf gelbem Grund.

In öffentlicher Meinung sind es Kämpfer, die ihr Land verteidigen

„Die Wolfsangel hat eine rechtsradikale Konnotation, es ist ein heidnisches Symbol, das auch die SS verwendet hat“, konstatierte der Ukraine-Experte Andreas Umland vom Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien gegenüber der Deutschen Welle im März. „Es wird in der Ukraine von der Bevölkerung aber nicht als faschistisches Symbol betrachtet.“ Das Regiment Asow wolle dieses Symbol aus der NS-Zeit als stilisierte Buchstaben N und I verstanden wissen, was für „Nationale Idee“ stehe. Unter den ersten Kämpfern von Asow, den Aktivisten der Euromaidan-Gruppen von 2013/14, „befanden sich zum Beispiel auch mehrere ethnische Juden“, ordnete der aus Rußland stammende israelische Historiker Wjatscheslaw Lichatschew im April in einer Analyse für das Portal „Ukraine verstehen“ ein.

Die Freiwilligenformation, benannt nach dem Asowschen Meer, wurde im Frühjahr 2014 von den nationalistischen Politikern Oleh Ljaschko und Dmytro Kortschynskyj als freiwilliges Polizeibataillon gegründet, um die damals kaum einsatzfähige Landesarmee im Kampf gegen die von Moskau gesponserte Separatistenbewegung in den zwei östlichsten Bezirken der Ukraine zu unterstützen.

Als im Herbst 2014 das Asow-Bataillon in ein Regiment umgewandelt und in die dem Innenministerium unterstellte Nationalgarde eingegliedert wurde, hätten die meisten rechtsextremen Kämpfer die Einheit verlassen. „Der Rest der Rechtsradikalen wurde durch das neue Kommando des Regiments im Jahr 2017 bewußt ‘ausgemerzt’“, so Lichatschow – „um das Image zu verbessern“, wie ihn das nichtstaatliche russische Nachrichtenportal „Meduza“ mit Exil in Riga zitiert, das ihn als Rechtsextremismus-Experten einführt. In den letzten Jahren habe es jedenfalls „keinerlei Anhaltspunkte“ für den Vorwurf gegeben, daß „Neonazis im Asow-Regiment“ dienten.

Nach den Kampfeinsätzen der vergangenen Jahre hält der ukrainische Extremismusforscher Anton Schechowzow das Regiment für eine „hochprofessionelle Spezialeinheit“. Die Zeiten, in denen es eine politische Organisation oder ein rechtsextremes Bataillon gewesen sei, seien vorbei. International sei es noch immer, aber nur weil ukrainische Bürger „verschiedener ethnischer Herkunft – Ukrainer, Russen, Belarussen, Krimtataren, Georgier und Griechen, die untereinander überwiegend Russisch sprächen“, in ihm vereint kämpften. Und Andreas Umland begründet die Anziehungskraft für viele Rekruten, daß diese Einheit als eine „besonders hart“ kämpfende gilt.

Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine sei es unproduktiv, über Rechtsextreme zu sprechen, so Lichatschow: „Das gesamte nationalistische Personal hat sich an die Front begeben und macht ein Prozent der Gesamtzahl der Kämpfer aus.“ Man könne nicht einmal sagen, daß einer ihrer Führer an der Heimatfront politisches Kapital auf Kosten seiner Kämpfer an der Front gewönne. „Als artikulierte politische Einheit ist die extreme Rechte in diesem Land nicht existent.“

Auch wegen russischer Dauer-Propaganda sei um Asow ein „Mythos“ entstanden, bewertet Umland das Interesse gerade an dieser Einheit. Für die meisten Ukrainer seien sie Kämpfer, die ihr Land gegen einen übermächtigen Angreifer verteidigen. Innenminister Denys Monastyrskyj sprach wohl aus, was viele denken, als er in einem Tagesspiegel-Interview bekundete: „Ich bin heute Regiment Asow. Jeder Ukrainer ist Regiment Asow. Asow ist ein Muster für alle Volksgruppen der Ukraine. Wie diese kleine Gruppe Mariupol verteidigt, ist eine Ermutigung fürs ganze Land.“

Diese Kämpfer sind jetzt Kriegsgefangene des Kremls, darunter auch der Fotograf Dmytro „Orest“ Kosazkyj, dessen Bilder aus dem Asow-Stahlwerk um die Welt gingen. Sie halten sich laut dem Donezker „Justizminister“ Jurij Sirowatko in der nur von Moskau anerkannten „Volksrepublik Donezk“ auf. Ob das stimmt, ist nicht zu überprüfen. Ihr Schicksal ist ungewiß. „In Rußland hat sich nichts geändert. Sie erwartet Folter, Mißhandlung, Tod“, ist sich eine über die Kämpfe an der Front informierte Quelle gegenüber der JF sicher. 

Das Asow-Regiment werde „als terroristische Organisation betrachtet“, tönte Sirowatko am Montag gegenüber Ria Novosti. Für die von den Kämpfern begangenen „Straftaten haben wir die schwerste Strafe: die Todesstrafe“. Kiew hofft, die Soldaten von Mariupol gegen russische Kriegsgefangene austauschen zu können, wie es in der Vergangenheit schon oft möglich war. Die Ehefrauen, Schwestern und Mütter der Asow-Männer fordern deren Freilassung. Die internationale Gemeinschaft solle alles dafür tun. Die Gruppe nennt sich in Anlehnung an das Stahlwerk „Frauen aus Stahl“.





Asow: eine Chronik

Mai 2014: Das Bataillon „Asow“ wird in Berdjansk auf der Grundlage eines Beschlusses des ukrainischen Innenministeriums gebildet. Seine ersten Mitglieder waren Fans des Fußballklubs Metalist Charkiw, also überwiegend russischsprachig. Mitgründer Andrij Bilezkyj, ein militanter nationalistischer Aktivist, leitete als Kommandeur Kämpfe im Osten.

Mai/Juni 2014: Asow befreit zusammen mit anderen Einheiten Mariupol aus der Gewalt der  Separatisten der „Volksrepublik Donezk“

August 2014: Gemeinsam mit den ukrainischen Streitkräften beteiligt sich Asow an der Schlacht um Ilowajsk.

September 2014: Bilezkyj erhält den Orden „Für Tapferkeit“ von Präsident P. Poroschenko. Im Monat darauf verließ er Asow.

November 2014: Umwandlung in ein Regiment, Eingliederung in die dem Innenministerium unterstellte Nationalgarde. Abgang von Schlüsselfiguren der Anfangszeit.

2015: Bilezkyj und andere Veteranen gründen die NGO „Asow-Zivilkorps“, aus der 2016 die Partei „Nationalkorps“ hervorgeht, die als informeller politischer Arm von Asow gilt. Asow-Kämpfer, die Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden, verlassen das Regiment.

Juli 2019: Bei der Parlamentswahl erreicht ein Bündnis aus Nationalkorps, Swoboda, Rechtem Sektor und rechtsextremen Splittergruppen 2,2 Prozent der Stimmen und zieht nicht in die Rada ein.

27. Februar – 20. Mai 2022: Asow verteidigt gemeinsam mit anderen Truppenteilen Mariupol.

Fotos: Ein unbekannter Verteidiger des Asow-Stahlwerks in Mariupol: Das Foto ist zum Symbol des ukrainischen Widerstands in Mariupol geworden. Es wurde von seinem Kameraden Dmytro Kosazkyj am 10. Mai aufgenommen. Der Porträtierte hat überlebt. Er geriet in russische Gefangenschaft; Zeremonie in Iwano-Frankiwsk zur Vereidigung der Freiwilligeneinheit Azow-Prykarpattja, 27. März: „Ich bin heute Regiment Asow“