© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Noch darf die Linke nicht jubeln
Kolumbien: Zwar konnte Gustavo Petro mit 40 Prozent die erste Runde gewinnen, doch in der Stichwahl könnte es eine Wende geben
Jörg Sobolewski

Die ehemalige Geisel der linksextremen FARC-Guerilla Ingrid Betancourt ließ vor der Präsidentschaftswahl in Kolumbien  ihren Gefühlen freien Lauf. „Es ist sehr wichtig, daß die Mitte in die zweite Runde kommt, daß wir das System der Korruption durchbrechen und Kolumbien eine Option für den Frieden, für die Versöhnung jenseits der Extreme bieten können“, so Betancourt in der Sendung Contacto Noriega. Kurz zuvor hatte die einzige Frau im kolumbianischen Präsidentschaftswahlkampf bekanntgegeben, daß sie ihre Kandidatur zurückzieht, um Rodolfo Hernández zu unterstützen. Er sei der „einzige Kandidat“, der das „System“ besiegen könne, erklärte die Parteichefin der grünen Partei Oxygen. 

Doch nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl ließ sich Gustavo Petro  von seinen Anhängern feiern. Etwas mehr als 40 Prozent gaben dem ehemaligen Guerillero ihre Stimme, der zweitplazierte Hernández kam auf 28,2 Prozent. Ein starkes Ergebnis für Petro, das aber gleichzeitig auch das Dilemma der kolumbianischen Linken zeigt. Denn anders als in Venezuela konnten sozialistische Strömungen in Kolumbien nie politisch mehrheitsfähig werden. 

Stattdessen fiel das Land in einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen der Regierung, linksextremen Rebellen, Drogenkartellen und rechten Paramilitärs. Der sich lange hinziehende Bürgerkrieg zwischen Links und Rechts erhielt Anfang der Zweitausender durch die Politik des populären Hardliners, Präsident Álvaro Uribe, eine entscheidende Wendung zugunsten der Zentralregierung und fand schließlich in einem Friedensvertrag zwischen Zentralregierung und FARC 2016 sein Ende. 

Während eine linksliberale Mehrheit im Parlament für die Unterzeichnung des Vertrages eintrat, fiel das Vertragswerk bei der kolumbianischen Bevölkerung durch. Dennoch gelang die Befriedung in der Fläche der Republik. Die ehemaligen Guerilleros der FARC nannten sich  um und traten als Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común zur Parlamentswahl 2018 an. Dort erlitt die Partei eine spektakuläre Niederlage. Mit unter einem Prozent konnten die Sozialisten keinen Parlamentssitz gewinnen – und zogen dennoch, dank einer Repräsentationsgarantie des Friedensvertrages, in beide Parlamentskammern ein 

Ein Trauma der radikalen Linken, die erneut feststellen mußte, daß sie in Kolumbien bisher nicht Fuß fassen konnte. Daß Gustavo Petro mit seiner Sammlungsbewegung Colombia Humana nun näher an die Macht rücken konnte als je ein radikaler Sozialist vor ihm, verdankt er vor allem einer effizienten PR-Maschinerie und einem Auftreten, das mehr an „woke“ Kreise in Europa oder Amerika erinnert als an die waffenstarrende Guerilla. 

Colombia Humana hat ihre Ursprünge in den urbanen Zentren; statt auf Landreform und Marx setzt sie eher auf Klimawandel und Themen aus der Regenbogenszene. Dennoch fehlen Petro und seinem Bündnis unverändert zehn Prozent zum Wahlsieg. 

Der drittplazierte Kandidat des Mitte-Rechts- Bündnisses Creemos Colombia, Federico Gutiérrez, der 23,9 Prozent erhielt, wird seine Anhänger eher zur Wahl von Hernández aufrufen, der damit rein rechnerisch eine Mehrheit sicher hätte. Der Multimillionär wird oft mit Donald Trump verglichen und betreibt einen Wahlkampf, der sich vor allem gegen die „korrupten Eliten“ richtet. Er selbst oszilliert in seinen Auftritten zwischen extrem rechts und sozialpopulär. Eine besondere Affinität zur radikalen Linken wird ihm jedoch kaum anzuhängen sein; sein Vater wurde von der FARC entführt, seine Tochter von der ebenfalls linksextremen ELN sogar erschossen.