© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Mehr Zentralismus wagen
Zukunft der EU: Emmanuel Macron für Änderung der Verträge / Ist ein Verfassungskonvent notwendig?
Dirk Meyer

Demokratischer, bürgernäher und effizienter soll die EU werden. Die „Konferenz zur Zukunft Europas“ gilt dabei als Leuchtturmprojekt der EU-Kommission und ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen. Doch selbst die Vorstellung des Schlußdokumentes am Europatag des 9. Mai mit einer Rede des EU-Ratsvorsitzenden Emmanuel Macron fand nur verhaltene Aufmerksamkeit. Die EU ist mit dem Brexit, der Flüchtlingskrise und dem Ukraine-Krieg sowie der schwelenden Staatsschuldenkrise und dem (Nicht-)Handeln der EZB im Zeichen der Inflation an Grenzen gelangt. Der Abschlußbericht enthält 49 Vorschläge und über 320 konkrete Maßnahmen. Sie sind in einem als „basisdemokratisch“ deklarierten, etwa einjährigen und organisatorisch aufwendigen Prozeß entstanden.

Jeder Bürger der EU konnte sich daran beteiligen, einige wurden speziell angesprochen. In mehr als tausend Veranstaltungen nationaler und europäischer „Bürgerforen“ sowie einer digitalen Plattform beteiligten sich etwa 650.000 EU-Bürger. Vertreter dieser „Bürgerforen“ sammelten die Diskussionsbeiträge und brachten sie in die Plenarversammlung der Konferenz ein. Ein von Parlament, Kommission und EU-Rat gebildeter Exekutivausschuß beaufsichtigte und koordinierte den Prozeß unter Mithilfe eines gemeinsamen Sekretariats. Wie hieraus das Destillat der veröffentlichten Empfehlungen jedoch zustande kam, bleibt im Detail ebenso im dunkeln wie die aufgewendeten Kosten.

Gemeinsame Kreditaufnahme auf EU-Ebene künftig als Regelfall?

Sechs wesentliche Vorschläge sind hervorzuheben, die überwiegend die Machtstellung der Brüsseler Zentrale und die der mediterranen Staaten stärken. Sowohl dem wachsenden Umfang der EU-Mitgliedstaaten wie auch den Mehrheitsverhältnissen im EU-Rat der Staats- und Regierungschefs ist demnach erstens eine Aufhebung des Vetorechts in der Steuer-, Haushalts- und Außenpolitik zugunsten einer qualifizierten – häufig mediterranen –Mehrheit geschuldet. Diese setzt die Zustimmung von 55 Prozent der Mitgliedstaaten voraus, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren („doppelte Mehrheit“). Nach dem Brexit kommen die EU-Nordländer (Deutschland, Niederlande, Österreich, die baltischen Länder, Dänemark, Schweden), die traditionell eher an Freihandel interessiert sind und einer Transferunion à la Macron skeptisch gegenüberstehen, mit nur 30 Prozent der EU-Bevölkerung nicht mehr auf eine Sperrminorität.

Zugleich wurde die Blockademacht der mediterranen Länder mit zusammen 43 Prozent gestärkt. Zweitens soll der Bereich „Gesundheit“ von der rein nationalstaatlichen Kompetenz in die sogenannte geteilte Zuständigkeit überführt werden. Dies dürfte eine Reaktion auf das teils unkoordinierte nationale Vorgehen in der Pandemie sein. Gerade bei unbekanntem Terrain sind die unterschiedlichen Erfahrungen vieler Staaten aber mitunter hilfreich. Jedoch könnte die Einkaufsmacht bei Impfstoffen und deren Koordination durchaus ein Pro-Argument darstellen – wenn sie denn funktioniert.

Ein dritter Vorschlag wird eher nebenbei erwähnt: die „gemeinsame Kreditaufnahme auf EU-Ebene mit dem Ziel, günstigere Bedingungen für die Kreditaufnahme zu schaffen“. Zwar sollte der EU-kreditfinanzierte Corona-Wiederaufbauplan Next Generation EU (NGEU; JF 14/21) (Umfang 824 Milliarden Euro) eine einmalige Ausnahme darstellen. Der Ukraine-Krieg führt jedoch bereits zu neuen Sonderbedarfen. So soll eine kurzfristige EU-Makrofinanzhilfe für die Ukraine in Form von Darlehen von bis zu neun Milliarden Euro auf der Basis von zusätzlichen Garantien der Mitgliedstaaten finanziert werden.

Dies wären „Peanuts“ im Vergleich zum geplanten langfristigen Wiederaufbauplan „Rebuild Ukraine“ von 100 bis 300 Milliarden Euro, der ebenfalls über gemeinschaftliche Eurobonds mit Haftungsanteil Deutschlands von etwa 21 Prozent finanziert werden soll. Ähnlich könnte der 300-Milliarden-Euro-Umbau des EU-Energiesektors bestritten werden. Infolge der verlorenen Sperrminorität wäre es zudem ein leichtes, nationale Investitionsausgaben zukünftig gegen die Interessen der Nordländer über Eurobonds mit Gemeinschaftshaftung „kostengünstig“ zu finanzieren. Eine Fiskalunion nach französischem Wunsch ohne Souveränitätsaufgabe der Nationalstaaten wäre das Ergebnis.

Als vierter Baustein eines „modernisierten europäischen Hauses“ wird ein sogenanntes Mehrebenensystem vorgeschlagen, nach dem entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip die möglichst unterste politische Ebene die anstehenden Aufgaben übernimmt. Der aufmerksame Leser vermißt an dieser Stelle allerdings den Verweis auf eine mögliche Erweiterung der „verstärkten Zusammenarbeit“ einzelner Mitgliedstaaten, um besondere politische Projekte durchzuführen (Artikel 20 EU-Vertrag).

Gemeinsame Streitkräfte und „transnationale“ EU-Wahllisten

Stattdessen schlägt EU-Ratschef Macron in seiner Straßburger Rede eine „Europäische politische Gemeinschaft“ vor, in die weitere Staaten bei einer Nicht-Erfüllung der Anforderungen zumindest in den Vorhof der EU aufgenommen werden könnten. Die Ukraine – im Transparency-Korruptionsindex an 122. Stelle – wäre ein erster Kandidat. Sodann werden gemeinsame EU-Streitkräfte vorgeschlagen. Hier zeigt sich eine gewisse Naivität bezüglich der Praktikabilität, ist doch die französische Armee eine vom Präsidenten befehligte, während die deutschen Streitkräfte dem Parlamentsvorbehalt unterliegen. Schließlich soll das Wahlrecht geändert werden, indem EU-weite bzw. „transnationale“ Wahllisten aufgestellt werden und ein Teil der Mitglieder des EU-Parlaments über eine EU-weite Liste gewählt wird – „one man, one vote“ in weiter Ferne.

Diese Entwicklung eines nur scheinbar demokratischeren Europas stärkt vornehmlich den Zentralismus auf EU-Ebene. Ihm sollte ein föderaler Entwurf einer repräsentativ-demokratischen Beteiligung der EU-Bürger entgegengestellt werden. Gemessen am Bevölkerungsanteil würde Deutschland nicht 96, sondern 131 Sitze im EU-Parlament erhalten. Noch gravierender sind die Abweichungen im EZB-Rat, der seit den Ankäufen von Staatsanleihen nicht nur über die Geldpolitik (Inflation) entscheidet, sondern zunehmend auch die Staatenfinanzierung übernimmt. Hier hat jedes Euro-Mitglied eine Stimme. Gemessen am Kapital- bzw. Haftungsanteil würde die Bundesbank jedoch Anspruch auf fünf Stimmen haben. Eine solche Vertragsänderung setzt Einstimmigkeit voraus, die illusorisch ist. Nur ein kollektiver EU-Austritt mit der Neugründung einer europäischen Föderation gleichgesinnter Staaten könnte dies ermöglichen.





Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Endbericht der „Konferenz zur Zukunft Europas“: futureu.europa.eu