© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Digitales Neuland
Infrastruktur: Münzen, Scheine und Papier weiterhin unverzichtbar
Paul Leonhard

Am Dienstag vergangener Woche staute es sich plötzlich an vielen deutschen Supermarktkassen: Weder EC-, Giro- noch Debit- oder Kreditkarten funktionierten. Nicht bei Aldi, Netto, nicht bei Edeka, auch nicht bei Rossmann und DM. Nur Bares war Wahres. Eine kurzzeitige Störung, hieß es. Doch am Mittwoch funktionierten die Bezahlterminals auch nicht, dafür waren handbeschriebene Pappschilder in den Eingangtüren angebracht: „Keine Kartenzahlung möglich!“ An Christi Himmelfahrt passierte auch nichts. Inzwischen wurden zumindest in den großen Marktfilialen viele Geräte ausgetauscht.

Verursachte allein das technisch zehn Jahre alte Kartenlesegerät „H5000“ von Verifone die Probleme? Oder war es ein Software-Fehler? Vertragen sich die Sicherheitszertifikate von Händler und Banken nicht mehr? Sind die Zahlungsdienstleister Concardis und Payone schuld? Chinesische, russische oder nordkoreanische Hacker wurden ausnahmsweise nicht verdächtigt. Immerhin gab es noch Strom, denn ansonsten hätte nicht nur die vielgepriesene digitale Welt stillgestanden. Die papiernen Eurocheques wurden mit der Euro-Einführung 2002 nicht mehr ausgegeben – es blieben also nur noch Münzen und Scheine zum Bezahlen.

Daß Kartenlesegeräte nicht funktionieren, kennen Fahrer von Plug-in-Hybrid- und E-Auto schon länger, wenn sie beim Ladeversuch an lokalen Stromtankstellen verzweifeln. Doch auch beim Arztbesuch klagen Patienten zunehmend über nicht funktionierende Kartenlesegeräte. Inzwischen ist dieses Problem aber eskaliert, weil zahlreiche Krankenversicherte keine gültigen elektronischen Gesundheitskarten (eGK) mehr besitzen. Unaufhaltsam läuft derzeit in den ausgestellten Karten von AOK, TK & Co. das Sicherheitszertifikat im Chip ab, womit die jeweilige Plastikkarte ungültig wird.

Ersatzbescheinigungen für formal abgelaufene Gesundheitskarten

Neue Karten gibt es aber nicht, da diverse elektronische Schaltkreise inzwischen weltweit zu den knappen Gütern zählen, nach denen zahlreiche Branchen – nicht nur die Auto- und Computerindustrie – gieren. Da Rohstoffe fehlen und die Hersteller den Auftragsstau nicht schnell genug abarbeiten können, werden auch die Kartenproduzenten nicht nach Bedarf beliefert, und die deutschen Krankenkassen können ihren Kunden die abgelaufenen Karten nicht ersetzen. Als Wartezeiten werden bis zu fünf Monate genannt.

Stattdessen gibt es per Mail oder Post Ersatzbescheinigungen als „Nachweis der Berechtigung zur Inanspruchnahme von Leistungen“ – zumindest solange Patient oder Krankenkasse noch über ausreichend Druckpapier verfügen. Intergraf, der europäische Verband der Druckindustrie, warnt bereits davor, daß sich die derzeitige Papierkrise weiter verschärfen werde, mit „schwerwiegenden Auswirkungen auf die Versorgung aller Wirtschaftszweige mit Druckerzeugnissen“. Die Befürchtung, mögliche Neuwahlen in Berlin könnten an Papiermangel scheitern, ist keine Verschwörungstheorie.

Der Chipmangel betrifft auch Geldkarten und alle Arten von Ausweisen und Pässen. Ohne die 10 x 8 Millimeter großen Zulieferteile wäre der Traum vom digitalen Neuland schnell ausgeträumt. Teurer wird es ohnehin. Mit „beträchtlichen Preissteigerungen“ rechnet Ralf Wintergerst, Chef von Giesecke+Devrient, einem Banknotendrucker, Hersteller von Bezahlkarten oder Dokumenten sowie Anbieter von Bezahl- und Sicherheitssystemen, bereits im Sommer 2021. Man spüre die Knappheit, „weil allein die Vernetzung in der Industrie zu einem enormen Bedarf führt“, sagte er der FAZ.

Nach Angaben des Dachverbandes der betrieblichen Krankenkassen können viele BKK ihre Versicherten zwar derzeit noch mit neuen eGK ausstatten, der große Einbruch komme ab dem dritten oder vierten Quartal, „nach Auslaufen ihrer Lagerbestände“. Und die nächste Hürde kündigt sich schon an: Künftig sollen schrittweise „digitale Identitäten“ eingesetzt werden. Sprich: Der Gesetzgeber will, daß sich Patienten künftig mittels ihres Smartphones beim Arzt ausweisen. Ein konkreter Termin für die Einführung ist bislang aber nicht bekannt. Bis dahin bleibt alles, wie es ist.

Wegen des eGK-Engpasses wird die papierene Ersatzbescheinigung wohl zur Regel. Dabei hatte das Bundessozialgericht in Kassel noch am 21. Januar 2021 in zwei Verfahren aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz entschieden (Aktenzeichen B 1 KR 15/20 R und B 1 KR 7/20 R), daß Patienten ihre Berechtigung grundsätzlich mit der eGK nachweisen müssen, um die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung GKV in Anspruch nehmen zu können. Doch die juristische und politische Theorie und die technische Praxis passen – wie so oft in Deutschland – nur schwer zusammen.