© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Brüssels dritter Marshallplan
EU-Finanzpolitik: Nach „Green Deal“ und Corona-Paket soll nun das Programm „Rebuild Ukraine“ neue Milliarden-Ausgaben ermöglichen
Albrecht Rothacher

Aller guten Schuldenprogramme sind drei, muß sich Ursula von der Leyen gesagt haben: Im Dezember 2019 wurde der „European Green Deal“ angekündigt. Im Mai 2020 kam das Corona-Paket „NextGenerationEU“ (NGEU) ins Gespräch. Beides wurde propagandistisch auch als „Marshallplan“ verkauft. Und 75 Jahre nach der ersten Ankündigung des „European Recovery Program“ der USA fürs kriegszerstörte Europa (Seite 19) folgt nun der dritte EU-Marshallplan für den Wiederaufbau der Ukraine – und das 41-Millionen-Land hat angesichts der russischen Feuerwalze tatsächlich Kriegsschäden aufzuweisen.

Außenminister Dmytro Kuleba bezifferte den Wiederaufbaubedarf bereits auf eine Billion Euro – eine Schätzung, die schlußendlich von der Fortdauer des Kriegs und den künftigen Außengrenzen der Ukraine nach einem Friedensschluß abhängt. Als man für eine D-Mark noch 1.000 Lira bekam, pflegte man in Italien „Tanti milliardi“ zu sagen, wenn Zahlen die Vorstellungskraft überstiegen.

Den physischen Wiederaufbau stemmen und EU-Recht umsetzen

Die Brüsseler Finanzplanungen fangen bei 450 Millionen Euro – im Jargon „eine Tasse Kaffee“ (sprich: ein Euro) pro Einwohner genannt. Einmal mehr zeigt sich nun die fatale Neigung der EU, jedes Problem mit neugedrucktem Geld zuschütten zu wollen. Doch der Ukraine schon jetzt solche Wiederaufbauhilfen in Aussicht zu stellen, könnte Wladimir Putin animieren, auch die Großstädte des Westens und Nordens zu zerstören, um die Rechnung für die zugesagte Westhilfe astronomisch zu erhöhen – so wie russische Truppen ukrainische Getreidelager gezielt zerstören, um das Angebot weltweit zu verknappen, Unruhen in Nordafrika zu stiften und die eigenen Exportpreise zu steigern.

Die drei EU-Marshallpläne sind in Doktrin und Zielrichtung überlappend. Der „Green Deal“ soll Polen von der Kohle entwöhnen, den Stahl CO2-frei machen, die E-Mobilität durchsetzen, Gebäude dämmen oder Windparks und „grünen“ Wasserstoff fördern. Der NGEU-Marshallplan soll hauptsächlich in Süd- und Osteuropa mit Zuschüssen und Nullzins-Krediten die Digitalisierung, das Energiesparen und andere tugendhafte Projekte befeuern – auch wenn das mit Corona nichts zu tun hat. Dies ermöglichte der EU-Kommissionschefin, als Wunschfee von Hauptstadt zu Hauptstadt zu tingeln, um bei Fototerminen die nationalen Milliardenprogramme huldvoll abzusegnen – außer natürlich in Warschau und Budapest, wo sich Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki gegenüber den Brüsseler Vorgaben unbotmäßig zeigten. Ungarn und Polen werden zur Strafe wohl leer ausgehen.

Kiew blüht nach den aktuellen Brüsseler Entwürfen (Fazilität „Rebuild Ukraine“) das gleiche Diktat. So soll das Land, nachdem es sich heldenhaft dem Kreml-Herrscher erwehrt hat, nicht nur den physischen Wiederaufbau stemmen, sondern auch Tausende Seiten von EU-Recht umsetzen – von der Abwasseraufbereitung und der Lebensmittelhygiene über ein oligarchenfreies Wettbewerbsrecht bis hin zu Frauenquoten und Glühlampenverboten. Und angesichts der zerschossenen Schwerindustrie dürften die EU-Klimaziele sicher kein Problem mehr sein. Man darf gespannt sein, wie die erhofften G7-Großspender USA und Japan auf die selbsternannte Führungsrolle der EU-Kommission reagieren werden. Die Umsetzung soll die ukrainische Verwaltung übernehmen, die 2021 Rang 122 im weltweiten Korruptionsindex von Transparency International einnahm – knapp vor dem afrikanische Armenhaus Niger. Bulgarien erreicht als korruptestes EU-Land immerhin Rang 78.

Schon vor dem Kriegausbruch flossen Milliarden in die Ukraine

Mitfinanziert werden soll der Ukraine-Marshallplan – neben internationalen Spenden und neuen EU-Schulden – auch durch den Verkauf von beschlagnahmten russischen und weißrussischen Auslandsinvestitionen: von der Energieinfrastruktur von Gazprom und Rosneft über Firmenbeteiligungen, Jachten, Villen, Chalets und Schlösser der Kreml-Kamarilla bis hin zur Enteignung des russischen Devisenschatzes von etwa 640 Milliarden Dollar, der sich in der Kontrolle der G7-Länder befindet. Es mag reizvoll sein, das Oligarchen-Vermögen als Zwangsreparationen an Ölscheichs und afrikanische Milliardäre zu versteigern, die goldene Armaturen, versenkbare Pools, Weinkeller und Hubschrauberlandeplätze mögen.

Doch all dies ist kein „Feindeigentum“ wie das deutsche Auslandsvermögen anno 1914 und 1939, das einfach konfisziert werden kann – die G7-Staaten sind nicht im Krieg mit Rußland. Und: Im laufendem ukrainischen Abwehrkampf befindet sich die Großzügigkeit der EU noch im einstelligen Milliardenbereich. Für US-Finanzministerin Janet Yellen ist dies nicht genug. Doch die Amerikaner haben als Kriegsgewinnler der hohen Öl- und Gaspreise gut reden. Sie versorgen keine Millionen ukrainische Flüchtlinge, sie haben keinen nennenswerten Rußland-Handel und schicken keine Hilfskonvois an die Grenze. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hält eine kurzfristige Hilfe von 15 Milliarden Dollar bis Juni zur Behebung der dringendsten Nöte, plus fünf Milliarden Dollar für den laufenden Haushalt monatlich (also 60 Milliarden Dollar jährlich) für unabdingbar.

Doch EU-Hilfen für die Ukraine gibt es nicht erst seit dem 24. Februar. Tatsächlich werden diverse Reformprogramme schon seit 1991 gefördert. Seit 2014 kamen von der EU 7,8 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten. Weitere zehn Milliarden Euro kamen als Kredit von den EU-kontrollierten Entwicklungsbanken EIB und EBRD. Wieviel davon 2016 beim betrügerischen Konkurs der milliardenschweren Privatbank des Oligarchen Igor Kolomojskij – dem Hauptsponsor von Präsident Wolodymyr Selenskyj – verschwand, ist weiter ungeklärt. Die allgegenwärtige Korruption, vom käuflichen „Doktortitel“ bis zu „Ausnahmen“ vom Wehrdienst, wird auch nach einem Waffenstillstand und Frieden nicht plötzlich verschwinden. Die Marshallplan-Milliarden dürften der Vetternwirtschaft neue finanzielle Nahrung geben.

EU-Plan „Ukraine relief and reconstruction“: ec.europa.eu