© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Im Zeitalter von Wassermann und Regenbogen
Leben im „New Age“: Grün lackierte Esoteriker haben als geistigen Überbau der westlichen Industriegesellschaften einen neuheidnischen Spiritismus etabliert / Der Heilige Geist zu Pfingsten ist jedoch keine kosmische Energie
Dietmar Mehrens

Wie die beiden Enden eines Regenbogens umspannen zwei Verse die ganze Bibel, in denen das Spektralfarbensymbol mit der Allmacht und dem Richteramt Gottes in Verbindung gebracht wird. Im ersten Buch der Bibel, der Genesis, heißt es: „Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde“ (Gen. 9,13). Im letzten Buch der Bibel, der Apokalypse des Johannes, wird der Thron Gottes mit Superlativen beschrieben, die seine Majestät und Erhabenheit betonen sollen: „Der da saß, war gleich anzusehen wie der Stein Jaspis und Sarder; und ein Regenbogen war um den Stuhl, gleich anzusehen wie ein Smaragd“ (Off. 4,3). Auch der Engel, der sechs Kapitel später das Geheimnis Gottes offenbaren soll, hat einen „Regenbogen auf seinem Haupt“ (Off. 10,4).

Beide Bibelstellen, die vom Anfang wie die vom Ende der Heiligen Schrift, stellen die Erscheinung des Regenbogens in den Kontext eines schrecklichen Weltgerichts. Das Bundeszeichen der Genesis folgt auf die große Gerichts-Sintflut, der nur Noahs Arche entging. Begründet worden war sie mit den Worten: „Die Erde war verderbt vor Gottes Augen und voll Frevels“ (Gen. 6,11). Und der Regenbogen, den der Seher Johannes schaut, bildet den Auftakt zu dessen endzeitlichen Visionen von Tagen des Zorns und der Zerstörung.

Wenn im Jahr des Herrn 2022 die Regenbogenfarben auf Google-Reklametafeln, Stadtbussen und Litfaßsäulen prangen, vor Bau- und Supermärkten, neuerdings auf ausdrücklichen Wunsch der deutschen Innenministerin sogar vor Dienstgebäuden der Bundesrepublik flattern, ist das aber schlechterdings nicht als Ermahnung zu einem gottgefälligen Leben im Sinne alt- und neutestamentlicher Prediger zu deuten. Denn deren ethischer Rigorismus, der in Zeiten universeller Bedrohungen einschließlich neuer Weltkriegsängste durchaus auf fruchtbaren Boden fallen könnte, verträgt sich nicht mit der zügellosen Moral von hemmungslosen Hedonisten und gottlosen Geschlechtsrevisionisten. Auf deren besessenes Engagement geht ja schließlich die Installation des neuen Regenbogens als inoffizielles zivilreligiöses Staatssymbol zurück. Das biblische Zeichen, das an Gottes Gerichtsbarkeit und Allmacht erinnern und zur Umkehr von den Wegen des Ungehorsams mahnen möchte, wurde also offensichtlich zweckentfremdet. Nur wann, von wem und wozu?

Es ist schon ein paar Jahrzehnte her, da tobte in den Kreisen der philosophisch-theologisch Eingeweihten der westlichen Welt eine Art Glaubenskrieg. Im Zentrum stand der Begriff New Age, der auf die Theosophin Alice Bailey (1880–1949) zurückgeht. Laut der von ihr verbreiteten esoterischen Irrlehre bricht mit dem Ende des zweiten Jahrtausends nach Christi Geburt eine neue Ära an. Die Astrologie geht nämlich davon aus, daß sich der Frühlingspunkt, das heißt der Stand der Sonne am 21. März, alle 2.140 Jahre um ein Tierkreiszeichen verschiebt. Mithin erwarteten Theosophen zur Jahrtausendwende die Ablösung des Fische-Zeitalters durch das des Wassermanns (Aquarius), der im Tierkreiszeichensystem auf die Fische folgt. Die gelten wegen des ICHTHYS-Codes (die Anfangsbuchstaben von „Jesus Christus, Sohn Gottes“ bilden im Griechischen das Wort „Fisch“) als Kennzeichen des christlichen Zeitalters. In dem neu angebrochenen Äon soll nun der Wassermann seine „Ströme einer spirituellen Bewußtseinserweiterung auf die Erde“ ausgießen, erklärt der Theologe Lothar Gassmann, ein scharfer Kritiker des New Age. „Im Fische-Zeitalter vertraute der Mensch auf Gott. Im Wasserzeitalter wird der Mensch nun selbst zum Gott, indem er sein Bewußtsein erweitert“, womit, so deutet es der konservative Theologe, das alte Versprechen der Schlange aus der Genesis in Erfüllung gehe. Der Regenbogen, „ursprünglich das Bundeszeichen zwischen Gott und dem Menschen“ werde zum Symbol des Brückenschlags vom Menschen zum Übermenschen. War das Kreuz das Sinnbild des christlichen Fische-Zeitalters, so ist der Regenbogen das des neu anbrechenden Wassermann-Äons. 

Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde die Irrlehre 1968 durch das Broadway-Musical „Hair“, einer theatralischen Hippie-Huldigung, die zehn Jahre später von Miloš Forman auch fürs Kino verfilmt wurde und die den Zusammenhang zwischen Vietnamkriegsskepsis, Studentenprotest, Hippie-Hedonismus und der Sehnsucht nach einem neuen, höheren Bewußtsein mustergültig abbildet. „Hair“ weist praktisch alle traditionellen Werte zurück: Christentum, Familie, Vaterland. Vom gegenwärtigen Gesellschaftssystem erwarten die „Hair“-Helden nichts mehr. Während das Fische-Zeitalter mit Repression, Pflichtbewußtsein, Selbstzucht, traditionellen Familien- und Ehestrukturen assoziiert wird, sind für die neue Ära eine entfesselte Libido, Freizügigkeit und Kreativität symptomatisch. Exemplarisch sind die folgenden Textzeilen aus dem Musical-Gesangsstück „Aquarius“: 

Harmonie und Recht und Klarheit!

Sympathie und Licht und Wahrheit! 

Niemand wird die Freiheit knebeln, 

niemand mehr den Geist umnebeln. 

Mystik wird uns Einsicht schenken, 

und der Mensch lernt wieder denken 

dank dem Wassermann.

Neben Alice Bailey gilt der Physiker Fritjof Capra, der in Berkeley lehrte, mit seiner New-Age-Bibel „Wendezeit“ (1983) als Wegbereiter des Wassermann-Glaubens. Durch das Herunterdimmen der besonders exzentrischen spirituellen sowie die Einbeziehung sozialer und politischer Komponenten, namentlich der Friedens- und Öko-Bewegung, wurde das „New Age“ zum „Light Age“ und gleichzeitig zum ideologischen Dauerbrenner in der westlichen Hemisphäre. Der Glaube der Marxisten an eine paradiesische kommunistische Endgesellschaft verband sich kongenial mit dem an das goldene Zeitalter des Wassermanns, in dem das Göttliche in allen gleichberechtigt zur Entfaltung kommen kann und kosmische Energien jeden durchfließen. In esoterischer Literatur, Seminaren für Führungskräfte, Yoga-Kursen und speziellen Zentren wurde die Lehre verbreitet und hat sich schleichend an vielen Stellen in den westlichen Gesellschaften verankert. 

Richtig spannend wird die Analyse der Aquarius-Auswüchse, wenn man ihren Einfluß auf die Grünen und Alternativen Listen der Achtziger unter die Lupe nimmt. Fritjof Capra war bei ihnen ein gerngesehener Referent. Einen Eindruck von dem gewaltigen Einfluß, den der gebürtige Wiener auf die Öko-Fundamentalisten ausgeübt hat, vermittelt der von ihm geprägte Leitsatz „Denke global und handle lokal!“, gleichsam die erste Sure der Wassermann-Religion.

Ein Schlüsselbegriff des New-Age-Kults ist Transformation. Durch die Erweiterung des menschlichen Bewußtseins, durch das Einswerden mit dem Göttlichen, das in allem gegenwärtig sei, allen Menschen, Völkern, Kulturen, in Mutter Erde (Gaia) und der Natur, gelangt der Mensch zu einem neuen „ganzheitlichen“ Denken, das in der esoterischen Lehre gern als neues Paradigma bezeichnet wird. Durch die Erleuchteten des neuen Zeitalters könnten nun ganze Gesellschaften, die ganze Welt transformiert werden. 

Reinhard König, der sich intensiv mit den Verflechtungen zwischen Esoterik und linken Bewegungen befaßt hat, urteilte bereits 1988 in seinem Buch „Geheime Gehirnwäsche“, die Grünen seien „weltweit die erste politische Kraft [...], die sich die Durchsetzung des New-Age-Gedankens auf politischer Ebene zum Ziel gesetzt“ habe. „Grünen-Politik ist die Politik des neuen Paradigmas und in den Parteiprogrammen und Schriften der Grünen finden sich alle die Aspekte des New Age [...]. Naturmystik und Naturreligiosität, Förderung des Weiblichen, Bejahung anderer sexueller Orientierungen (etwa Homosexualität), radikale feministische Frauenbewegungen [...].“

Voll auf Aquarius-Kurs ist auch der derzeit grassierende Geschlechtsrevisionismus. „Das Eintreten des New Age für den ‘androgynen’ Menschen, der gleichzeitig männlich und weiblich ist“, so der katholische Theologe Joseph Schumacher (1934–2020), „erhält seine Legitimation dadurch, daß er das Symbol der Ganzheit ist, der Überwindung aller Gegensätze im Kosmos.“ New Age habe die Frankfurter Schule und die von Marx, Mao und Marcuse geprägten Utopien abgelöst. Dem Marxismus gleiche die Bewegung auch in anderer Hinsicht: Sie sei „weder rational noch freiheitlich“, dafür „unnachgiebig und intolerant gegenüber den Andersdenkenden“ und „totalitär, wie im Grunde alle Ideologien totalitär sind“.

Der Einfluß der New-Age-Doktrin auf die Grünen erklärt den auf den ersten Blick bizarren Widerspruch, daß eine Politikerin wie Katrin Göring-Eckardt Kreuze in deutschen Amtsstuben empörend und gleichzeitig an der Beflaggung von öffentlichen Gebäuden mit einem anderen religiösen Symbol, eben dem Regenbogen, nichts Schlimmes finden kann. Als ob die „europäischen Werte“, die die Regenbogen-Fetischisten dadurch repräsentiert sehen wollen, nichts mit dem Christentum zu tun hätten und sich durch das Kreuz nicht viel würdiger vertreten ließen. Und als ob nicht auch die christliche Überlieferung, etwa der biblische Bericht über das Wunder von Jerusalem, an welches das Pfingstfest erinnert, wunderbare Anlässe böte, Einheit in Vielfalt zu feiern: Durch das Wirken des Geistes Gottes waren auf einmal die Sprachgrenzen, die die verschiedenen Nationen sonst trennen, wie weggeblasen. Doch der Glaubenskrieg scheint entschieden: Regenbogen hui, Kreuz pfui!

Gott als Gegenüber, als einer, der sich uns im irdischen Jesus persönlich vorstellt, hat im synkretistischen New-Age-Kult keinen Platz. Die Lehre vom allmächtigen Vater, der autoritär Lebensregeln verordnet, verhält sich zu der vom Erspüren des Göttlichen in uns selbst wie Feuer zu Wasser. Der Heilige Geist, der an Pfingsten zur Beglaubigung der von Jesus gepredigten Lehre herabgesandt wurde, ist keine kosmische Energie, sondern wie dieser Person der Trinität, Erlösung kein Selbstoptimierungsprojekt, sondern Gnadenakt eines souveränen Gottes. Dem biblischen Menschenbild des Sünders von Anfang an steht ein irrational optimistisches gegenüber. Vollkommen weltfremd findet Schumacher die Illusion „von einer politisch und religiös geeinten Welt, die von einer Weltregierung und von einer Welteinheitsreligion bestimmt“ sei. 

Sie scheint am 24. Februar dieses Jahres mit dem Beginn des Ukraine-Krieges auch einen empfindlichen Dämpfer erhalten zu haben. Den Weg zur globalen Harmonie im Weltfriedensreich des Wassermanns machen gerade osteuropäische Bombenkrater unpassierbar. Nicht völlig auszuschließen, daß selbst bei dem Grünen-Politiker Anton Hofreiter bald die „Hair“-Frisur einem Kasernenhof-Schnitt weicht.