© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Die Rätsel bleiben ungelöst
Lieder von Robert Schumann: Der Sänger Christian Gerhaher hat sein Herzensprojekt vollendet
Jens Knorr

Der Covid-19-Ausnahmezustand eröffnete dem deutschen Bariton Christian Gerhaher und seinem Klavierbegleiter Gerold Huber das Zeitfenster, ihr langjährig gehegtes Vorhaben zu vollenden, „alle, wirklich alle“ Lieder von Robert Schumann aufzunehmen. Daß Sony Classical dem „dringenden Wunsch“ der beiden nachgab, war keineswegs mehr als selbstverständlich vorauszusetzen, da doch das Zeitalter der physischen Tonträger seinem Ende entgegengeht.

Aber braucht es nach den umfassenden Editionen, die Dietrich Fischer-Dieskau in den 1970er Jahren und Graham Johnson in den Neunzigern und frühen nuller Jahren vorgelegt hatten, überhaupt noch eine weitere?

Fischer-Dieskau und sein Pianist Christoph Eschenbach hatten sich auf alle diesem Sänger sinnvoll singbar erscheinenden, sprich, seiner Stimme erreichbaren, „Männerlieder“ konzentriert, der britische Pianist Johnson die Lieder annähernd chronologisch sortiert, also dem Kompositionsdatum folgend, und sie unterschiedlichen Sängern nach Stimmfächern zugeteilt. Gerhaher nun stellt die Lieder der zwei Schaffensperioden einander gegenüber: den Liedern des „Liederjahres“ 1840, die trotz aller Neuerungen doch auch vorgefundener Tradition der Liedkomposition verhaftet geblieben waren, die 1849 bis 1852 komponierten Lieder, die dem Sänger als „von einer größeren inhaltlichen Radikalität und Düsterkeit“ und „nun ganz eigenen Deklamationsweise“ geprägt erscheinen und die er als Auftrag nimmt, die Behauptung eines „defizitären Spätstils“ zu widerlegen.

Jedes Lied verbirgt eine zyklische Idee

Aufgenommen wurden neben den Opera für eine Stimme und Klavier die für zwei Stimmen, Frauen- und Männerstimme, sowie Opera, welche Duette und mehrstimmige, nichtchorisch konzipierte Lieder enthalten. Nicht aufgenommen wurden Jugend- und zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Lieder, Opera mit chorisch konzipierten Stellen sowie alles Fragmentarische. Die meisten Lieder der 2004 und 2007 veröffentlichten Alben „Dichterliebe“ und „Melancholie“ hat Gerhaher neu eingesungen, darunter Dichterliebe op. 48 und Sechs Gedichte von N. Lenau und Requiem op. 90, andere, wie den Eichendorff-Liederkreis op. 39, aus den früheren Alben übernommen. Auch die Lieder der 2017 und 2018 veröffentlichten Alben „Myrthen“ und „Frage“ sind in die Edition aufgegangen.

Jedes einzelne der Schumann-Lieder verbirgt eine zyklische Idee, die sich jedoch erst in Genossenschaft mit den andern zu „Liederkranz“ oder „Liederkreis“ oder lediglich unter einer Opus-Zahl versammelten Liedern entbirgt. Erst in der Zusammenstellung realisiert sich die übergeordnete poetische Idee, in der die poetische Wahrheit des einzelnen Liedes aufgehoben ist. Text zu Vertonung, Gesangs- zu Klavierstimme, Lied zu Lied und Lieder zu Zyklus verhalten sich dialektisch zueinander. Einen Zyklus auseinanderreißen hieße, seine Einheit zu zerstören. Gerhaher hat die Zyklen so zusammengestellt und -gehalten, daß jeder CD thematisches Eigengewicht zukommen könnte.

Warum Gerhaher die Lieder der beiden Schaffensperioden nicht vermengt singen möchte, begründet ihm Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken, Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich, im Beiheft der Edition. Demnach verstünde Schumann die Musik, wie alle Künste, im Sinne Jean Pauls als „Vermittlerin zwischen Gegenwart und Zukunft“. Schumanns Komponieren folge der „Vorstellung, in den Liedern schaffe sich ein produktiver ‘Ton’“, der „sich zwischen Gegenwart und Zukunft schiebe, als Verheißung dessen, was noch kommen mag“. Indem der „Ton“ Vergangenheit und Zukunft vergegenwärtige und zugleich Gegenwart negiere, bilde er etwas ab, das es nicht mehr und noch nicht gibt – der „Ton“ als Teil einer „imaginäre(n) Gesamtheit aller Töne“, „das Lied als Teil einer Musik, in der das Künftige einer neuen, einer poetischen Zeit ahnbar wird“. Das mache ihr „utopisches Potential“ aus und verweise auf den „Vormärz“. Es sei die Niederschlagung des Dresdner Aufstands im Jahre 1849 gewesen, die in Schumann bezüglich der Gattung Lied neue Produktivität freigesetzt habe, die bis ins Jahr 1851 reichte. Die Schwärmerei sei der Desillusionierung gewichen, das Poetische der Ernüchterung, die „Entgrenzung“ der „Wirklichkeitsnähe“. Und ein Austesten, was möglich sein könnte, dem Austesten dessen, was noch möglich ist.

Ein bis zur Spannungsarmut reduziertes Singen

So willig man Schumanns entgrenztem „Ton“ auf den sechs CDs mit Liedern der ersten Periode wohl auch nachhören oder dessen wirklichkeitsnäherem auf den fünf CDs mit Liedern der zweiten schmerzvoll nacherleben möchte, so bleibt doch hier Lüttekens tönernes Ideenkonstrukt selten eingelöste Behauptung.

Christian Gerhaher ist kein intervenierender Sänger. Erinnert er den Musikkritiker Jürgen Kesting an die Sänger vor Dietrich Fischer-Dieskau, so scheint mir dagegen sein Singen als ein sehr reflektiertes nach Fischer-Dieskau. Der auf Objektivierung bedachte Nachfolger weiß, daß Subjektivierung immer auch Gefahr läuft, daß sich die Intentionen des Interpreten vor die des Komponisten drängen und diese verschwinden lassen.

Dafür nimmt er allerdings in Kauf, daß sich die, so Gerhaher, „künstlerisch deutende Annäherung“ an die Lieder auf bloßen Bericht über die Lieder reduziert und Bericht auf bloßes Referat. Angesichts seines Sieges über die Bilder aber droht der Gedanke selber zu verblassen. Die Stimme des späten Gerhaher hat wenig Schimmer und Resonanz, sie klingt trocken und porös. Sein bis zur Spannungsarmut reduziertes Singen, so abweisend wie anziehend, klingt manches Mal so müde, als sei der Sänger mit der Zeit aller Interpretation überhaupt überdrüssig geworden.

Gerhahers verortet die Lieder im Privaten und in der Psychologie des Komponisten und hält seine Interpretationen von musikalischen und gesellschaftlichen Kontexten frei. Um aber im Sinne Jean Pauls aus Gegenwart Zukunft zu gewinnen, müßte ein Ton gesucht und gefunden werden, der das Lied selbst, aber auch die zugeordneten Lieder überspannt, ein Ton, der die zweite Schaffensperiode in die erste trägt wie die erste in die zweite, der Entgrenzung verwirklichte und Wirklichkeit entgrenzte. Dieser Ton ward kaum getroffen. Einander biedermeierlich umkreisend, rutschen Gesangs- und Klavierstimme ein ums andere Mal in falsche Identität ab.

Wurden die den Frauenstimmen vorbehaltenen Lieder und Zyklen lediglich der Vollständigkeit halber aufgenommen? Camilla Tilling singt die „Myrthen“ und Julia Kleiter „Frauenliebe und -leben“ wenig imaginativ. Daß einige Lieder aus den Zwölf Gedichten aus F. Rückerts „Liebesfrühling“ op. 37 nicht von Robert, sondern von Clara in Noten gesetzt wurden, fällt da nicht weiter ins Gewicht. Schumanns durchaus problematisches Liebes-, Frauen-, Ehe-Bild wird von Gerhahers Gesellschaft nur reproduziert, nicht kritisch aufgehoben.

Streng abgegrenzt erscheinen Schumanns Schaffensperioden im Bild. Nach Daguerreotypien aus dem Jahre 1850 hat Hadi Kamini ein dreidimensionales virtuelles Portrait des Komponisten erstellt, jeweils einer Schaffensperiode eine Seite zugeordnet, der gesamten Box eine dritte. Zu einem Gesamtbild fügen sich die verschiedenen Seiten dieses wirklich unwirklichen Schumann nicht.

Rätselhaft wie dieses virtuelle Portrait bleibt das gesamte Liedschaffen des Erzromantikers, Davidsbündlers und Biedermeiers, Revolutionärs und Patriarchen, ein Schaffen zwischen Eruption und Agonie, Gattungssystematik und Gattungsauflösung – das Schaffen eines durch und durch deutschen Komponisten. Ach, wäre die Lösung doch so einfach, wie in dem „Rät(h)sel“-Lied aus den „Myrthen“. Interpretation sucht die Rätsel des Kunstwerks zu lösen, aber mit der Lösung verschwände das Kunstwerk. Gerhaher und Huber haben alle Rätsel anspruchsvoll gruppiert.

 www.gerhaher.de