© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Während ich mein unglaublich mäanderndes Printarchiv der vergangenen Jahrzehnte „nichte“ oder vielmehr vergeblich versuche, einer vollkommenen „Nichtung“ zuzuführen, überlege ich, ob es nicht zielführend ist, gleich auch Heideggers „Sein und Zeit“ zu entsorgen, welches ich nie wirklich angefaßt, geschweige denn gelesen habe. Ursprünglich erworben für eine geplante Seminarbeit – einen nie geschriebenen Artikel über den Begriff der „Weltzeit“ für das Historische Wörterbuch der Philosophie –, könnte es jetzt einer „Nichtung des Nichts“ anheimfallen, auf daß es im Buchregal nicht weiter vor sich hin „west“. Dann lieber das Motto „Go West“! 


Dort wieder zu Hause ist auch L., die ich einst im „Café in der Sowjetzone“ kennengelernt hatte. Die ebenso charmante wie wunderschöne französische Architekturstudentin von damals ist die Nichte des – wie ich der Tagesspiegel-Lektüre entnehme – neuen französischen Bildungsministers Pap Ndiaye. Das abgedruckte Portraitfoto von dieser „Pappnase“, einer Koryphäe für die diskursive Dekonstruktion der Nation, die als Hort des strukturellen Rassismus gilt, korrespondiert im selben Augenblick mit dem aufgeregten jungen schwarzen Mann, der am „Café im Westsektor“ vorbeiläuft und lauthals lamentierend sich am Telefon rechtfertigt: „Ich kann doch jetzt nichts anderes mehr machen – die wollen uns entlassen, nur weil wir Männer sind. Mir bleibt doch gar nichts anderes mehr übrig.“ Offenbar, so mein Gedanke, wird sich der junge Mann zum Opfer eines strukturellen Rassismus stilisieren. 

Geradezu prophetisch ist ein verblichener „taz“-Artikel zum 10. Jahrestag nach dem Ende der Sowjetunion.

Zurück in den zu nichtenden Printbergen – vor allem alte, vergilbte Zeitungsseiten wie die Blätter eines Komposthaufens – stoße ich auf die Titelseite der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. März 2005 mit der Überschrift „Putin arrangiert sich mit der Kiewer Führung“, darunter ein Foto des russischen Präsidenten, wie er „der ukrainischen Premierministerin Timoschenko in Kiew lauscht“. Geradezu prophetisch daneben ein verblichener taz-Artikel vom 28. Dezember 2001 zum 10. Jahrestag des Endes der Sowjetunion. Unter der Überschrift „Die Beerdigung ist nicht zu Ende“ schreibt der russische Philosoph Michail Ryklin weitsichtig, es gebe „kein besseres Mittel, Menschen den Patriotismus abzugewöhnen, als ihn zu einem Teil der staatlichen Politik zu machen“. So sei „die Durchsetzung von Patriotismus mit staatlichen Mitteln ein Akt der Verzweiflung: Die Staatsmacht, die ihre Bürger schon im vorhinein zu Patrioten abstempelt, wartet dabei gar nicht erst auf deren eigene Willensbekundung, ja verfälscht diese sogar massiv. Sie geht dabei unbewußt davon aus, daß man sie gar nicht lieben kann, sondern diese sogenannte Liebe nur mit Gewalt zu erzeugen ist.“ Der Text Ryklins schließt mit einer dunklen Ahnung: „Ohne Grenzen zu denken, haben wir noch nicht gelernt. Und eine neue Grenze zu ziehen, ohne damit kolossale Probleme zu erzeugen, scheint unmöglich, obwohl diese Versuche dauernd unternommen werden.“ Wer hätte gedacht, daß eine berüchtigte Redewendung („als hätten hier die Russen gehaust“) noch einmal blutige Wirklichkeit wird.