© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Fluchten aus den Schattenseiten
Autobiographie: Der Musiker Heinz Rudolf Kunze erzählt Geschichten aus seinem Leben und seiner Karriere
Eric Steinberg

In diesem Jahr feiert Heinz Rudolf Kunze sein 40jähriges Bühnenjubiläum. Die vergangenen Jahrzehnte waren für den Musiker mit der markanten Hornbrille eine bewegte Zeit: Über vier Millionen verkaufte Tonträger und 36 veröffentlichte Studioalben zeichnen jedoch kein vollständiges Bild des gebürtigen Ostwestfalen. In seiner Autobiographie, die er gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler und Sachbuchautor Oliver Kobold geschrieben hat, gewährt er tiefere Einblicke.

Lieder und Texte prägen zwar zum Teil das öffentliche Bild, haben aber nicht unbedingt etwas mit der Persönlichkeit gemein, die hinter der künstlerischen Fassade steckt. Zwar ist auch diese Biographie ebenso wie Musik eine Form des Ausdrucks, allerdings ist sie in jedem Falle persönlicher. Sie enthüllt nicht nur das Motiv, sondern auch den Menschen hinter der Hornbrille: „Ich will die Menschen nicht erziehen oder dazu bringen, daß sie ihr Verhalten ändern. Ich will sie nicht bevormunden und nicht beschämen.“ 

Botschaften waren ihm wichtiger als Verkaufszahlen

Zu Beginn des Buches erzählt Kunze davon, wie sehr er Künstler schätze, die ihr musikalisches Programm durch kleine Geschichten und Geschriebenes ausschmücken. Das gelingt auch ihm selbst, nicht nur auf der Bühne. Durch Anekdoten, Bilder und Vergleiche wirken die inhaltlichen Schwerpunkte noch lebendiger, er wirkt ehrlicher, humorvoll, aber auch angreifbarer. Denn: Seine Meinungsstärke kommt auch in dieser Autobiographie nicht zu kurz. Beispielsweise, wenn er die heutige Popbranche in Deutschland beschreibt: „Ihre Empfindsamkeit ist Kalkül, ihre Nachdenklichkeit Pose. Immer geht es ums Aufbrechen, Durchstarten, um das Feiern des Augenblicks und das Umarmen der Mitmenschen.“

Mit Anpassung an diesen Betrieb hat er zeit seines Lebens gehadert. Bis auf den Hit „Dein ist mein ganzes Herz“ taugten wenige seiner Lieder als Chartstürmer. Daß gerade dieses großen Erfolg feiern würde, habe er selbst nie ganz begriffen. „Ich nahm und nehme ihn immer noch mit großer Dankbarkeit zur Kenntnis, wirklich erklären kann ich ihn mir nicht.“ Das mag an seinen musikalischen Idealen liegen: Sperrige Texte und Botschaften waren ihm wichtiger als reine Verkaufszahlen. Viele seiner Lieder lebten von politischen Mitteilungen, er selbst war für lange Zeit in der SPD. Nennenswerten Raum nimmt sein politisches Engagement in dem Buch jedoch nicht ein. Lieber erzählt er persönliche Geschichten. 

Diese Offenheit und Ehrlichkeit weckt Sympathien. Wie er selbst sagt, handeln Kunzes Liedtexte nur selten von seinen Gefühlen. Diese Fassade läßt der Sänger in seiner Biographie fallen und zeigt, daß er keine Angst vor der Familiengeschichte hat. Er beschreibt die Verarbeitung der Waffen-SS-Vergangenheit seines Vaters, der erst 1956 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, oder widmet sich der Frage, ob er nicht in Wahrheit doch von einem Freund der Familie gezeugt wurde.

Im Hause Kunze herrschte nicht immer Harmonie. Die Gewißheit, das alles irgendwann hinter sich zu lassen, sicherte ihm die britische Rockband The Who mit ihrem Album „Tommy“ und Songs wie „I’m Free“ im Radio zu: „Den Schreibtisch, die Hausaufgaben, den immerwährenden Streit im Haus, die Migräne meiner Mutter, den Krieg meines Vaters, die ganze Vergangenheit und die Gegenwart, die so oft nach Wirsing stank.“ Doch nicht nur die Jugend hat Kunze zugesetzt: „Solange ich denken kann, habe ich Angst gehabt. Nicht die Angst der Panikattacken, sondern die Angst vor dem Scheitern. Angst, nicht genug zu sein.“ Kunze ist selbstkritisch, mit sich, seiner Vergangenheit und der Gegenwart. Wie ein alter, gezeichneter Mann wirkt er trotzdem nicht. Im Gegenteil. 

Freimütig und in lockerem Tonfall erzählt Kunze, was ihn als Musiker geprägt und umgetrieben hat. Detailreich schwärmt er vom Kauf seiner ersten Vinylscheiben und der Leidenschaft für den Sound der Beatles. Kunze lebte schon immer für die Musik, die ihm Fluchten aus den Schattenseiten des Lebens ermöglichte. 

Diese Leidenschaft führte auch dazu, mit anderen Größen des deutschen Musikgeschäfts zu verkehren, darunter Udo Lindenberg, Wolfgang Niedecken, Nena, Peter Maffay oder auch mit dem Konzertveranstalter Marek Lieberberg. Für die hat er im Buch oftmals vor allem Bewunderung übrig, ein Blatt vor den Mund nimmt der heute 65jährige trotzdem nicht. Wie selbstverständlich schildert er eine Begegnung mit Maffay in seinem Hotelzimmer: „Nach getaner Arbeit setzten wir uns aufs Bett und redeten über den Tag und die Kollegen. Dann war der Whisky geleert. Unmittelbar nach dem letzten Schluck fiel Peter um.“ Ein echter Rockstar war Kunze jedoch nie; zerlegte Hotelzimmer und andere Eskapaden hatten keinen Platz in seinem Leben. 

So ergibt sich auch in dem Gesamtbild, das er von sich selbst im Buch zeichnet, ein bodenständiger Musiker mit Zielen und Träumen. Ein Mann, der selbstreflektiert in die Vergangenheit schaut und trotzdem den Mut aufbringt, mit einem Lächeln in die Zukunft zu schauen. Genug hat er nämlich noch lange nicht: „Wann endet ein Werdegang? Ein Ende des Gehens ist zum Glück noch nicht abzusehen. Aber daß es ein Wettlauf mit der Zeit wird, das steht wohl fest. Ich glaube, es wird ein Herzschlagfinale“, heißt es in den letzten Zeilen des Werks. 

Heinz Rudolf Kunze: Werdegang. Die Autobiographie. Reclam, Ditzingen 2022, gebunden, 288 Seiten, 49 teils farb. Abbildungen, 28 Euro