© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Eine auf Dauer angelegte Ordnung
Königshaus: Wie die britische Monarchie seit Jahrhunderten Überlieferungen stiftet / Eid und Salbung sind zwei zentrale Aspekte
Karlheinz Weißmann

In diesen Tagen beginnen die Feierlichkeiten zum siebzigjährigen Thronjubiläum Königin Elisabeths II. Kein Monarch hat je so lange an der Spitze eines Reiches gestanden. Als alles begann, war die Welt eine andere. Das weiß jeder Zuschauer, der die Serie „The Crown“ aufmerksam verfolgt. Denn die erste Folge der ersten Staffel hat das Geschehen eindrucksvoll nachgezeichnet: Elisabeth befindet sich als Kronprinzessin auf offizieller Reise durch das Commonwealth; gerade in Kenia angekommen, erhält sie am 6. Februar 1952 die Nachricht vom Tod ihres Vaters, König Georgs VI., muß hastig nach London zurückkehren, wo sie mit einer ungeheuren Menge an Erwartungen konfrontiert wird, auf die man sie kaum vorbereitet hat.

Unter dem Gesichtspunkt des Staatsrechts knüpfte die Regentschaft Elisabeths direkt an die Georgs VI. an: Der König ist tot, es lebe die Königin! Aber diese Kontinuität konnte niemanden darüber hinwegtäuschen, welchen Belastungen die britische Monarchie in der jüngeren Vergangenheit ausgesetzt gewesen war. Im Jahr 1936 hatte Eduard VIII. unter spektakulären Umständen auf den Thron verzichtet. Das zwang seinen Bruder, der nie damit gerechnet hatte, König zu werden, als Georg VI. die Nachfolge anzutreten. Kurze Zeit später brach der Zweite Weltkrieg aus, der das Staatswesen extremen Belastungen aussetzte, begleitet von der Erosion des Empire.

Georgs Titulatur hatte bei der Krönung noch gelautet: „Kaiser von Indien, König von ganz Britannien und der britischen Überseegebiete, Verteidiger des Glaubens“. Indien und damit der kaiserliche Rang waren bereits 1947 verlorengegangen, und Elisabeth mußte auch auf das „Britannia Omnia“ verzichten, nachdem die Republik Irland endgültig ihre Souveränität erklärt hatte.

In späterer Zeit lösten sich immer mehr Länder aus dem Verband des Commonwealth und nahmen ihr die Stellung als formelles Staatsoberhaupt, und neuerdings werden sogar in Schottland und Nordirland Bestrebungen stärker, das Vereinigte Königreich zu verlassen. Von der Macht und dem Glanz jenes Imperiums, das das römische überbot, ist wenig geblieben. Großbritannien wurde auf seinen Kern reduziert, hat seit langem mit strukturellen Krisen zu kämpfen und sah sich gezwungen, von zahlreichen liebgewordenen Gewohnheiten Abschied zu nehmen.

Es gibt keine nennenswerte republikanische Strömung

Die Monarchie gehört nicht dazu. Jedenfalls gibt es in Großbritannien bis heute keine nennenswerte republikanische Strömung. Das gilt trotz der Skandale, die einzelne Mitglieder des Hauses Windsor ausgelöst haben, oder der Kritik an den Kosten, die all die Paläste, Landhäuser, Karossen, Gardisten in unpraktischen Uniformen, Hofbediensteten, Pferde und Hunde verursachen. Zur Erklärung dieses Phänomens wird von manchem auf die Person der Königin hingewiesen, ihr Pflichtbewußtsein, ihre Disziplin und ihre Authentizität. Aber das dürfte kaum genügen. In Mode ist deshalb eine theoretisch anspruchsvollere Erklärung, die auf die erstaunliche Fähigkeit der britischen Monarchie abhebt, Überlieferungen zu „konstruieren“. 

Der bekannteste Vertreter dieser Auffassung ist der Historiker David Cannadine. „Neun von zehn englischen Traditionen sind in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entstanden.“ Mit diesem Satz – der Äußerung eines Gelehrten in C. P. Snows Roman „The Masters“ – läßt Cannadine seinen Essay „Die Erfindung der britischen Monarchie 1820–1994“ beginnen. Dessen Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß die seit dem 18. Jahrhundert regierenden Dynastien Großbritanniens – vor allem die Welfen – personell eher eine Negativauslese darstellten und alles andere als beliebt waren. Die Sorge vor einem Umsturz nach dem Muster der Französischen Revolution hatte durchaus Gründe. In keinem Fall war die Monarchie populär. Die Krönungen fanden bezeichnenderweise kaum öffentliches Interesse.

Mentalitätswandel in der Blütezeit der viktorianischen Epoche

In der Folge änderte sich das allerdings deutlich. Cannadine setzt den Kurswechsel mit der Erhebung Viktorias zur Kaiserin von Indien im Jahr 1877 an. Damals, so seine These, endete die „Periode unzulänglich organisierter Rituale, praktiziert in einer Gesellschaft, die noch überwiegend dezentral, ländlich, vorindustriell war“. Es folgte die Blütezeit der viktorianischen Epoche, der Erwerb immer neuer Kolonien, die Herrschaft über die Weltmeere, die Durchsetzung eines arbeitsamen und nationalbewußten Bürgertums und der Aufstieg Londons zur Metropole. Damit einher ging ein Wandel der Mentalität, der in den tonangebenden Schichten eine ausgesprochene Begeisterung für Hierarchie, prunkvolle Gestaltung und aufwendiges Zeremoniell weckte. Cannadine macht dessen Auswirkungen im Hinblick auf die Monarchie an der Vermehrung der Feierlichkeiten, dem Errichten von Denkmälern, dem Druck von Sonderbriefmarken oder dem Prägen von Sondermünzen ablesbar.

Es entstand damit, folgt man seiner Sicht der Dinge, vor dem Ersten Weltkrieg ein Set an Einstellungen, das die Briten überzeugte, in einer schönen und durch die Überlieferung wohlgeordneten Welt zu leben. Ein Selbstbild, das auch in der Folgezeit erhalten blieb, obwohl Strukturveränderungen dazu zwangen, die Monarchie nach und nach zu „entviktorianisieren“. Der König oder die Königin und die königliche Familie mußten den Menschen näherkommen, ohne daß die Distanz in demselben Maß aufgegeben wurde wie im Fall der Königshäuser Skandinaviens, Belgiens, der Niederlande und zuletzt auch Spaniens.

Was die Beschreibung dieses Prozesses angeht, wird man Cannadine ohne Zögern zustimmen. Problematisch ist allerdings sein Beharren auf dem Begriff „Erfindung“. Denn Erfindung setzt gemeinhin einen Erfinder voraus, und in diesem Fall dürfte es ausgesprochen schwer sein, irgendwo einen Einzelnen oder eine Gruppe auszumachen, die planvoll steuernd darangegangen ist, die britische Monarchie zu „erfinden“. Selbstverständlich kann man auf diesen oder jenen hinweisen, der die wachsende Bedeutung von Symbolpolitik in der modernen Massengesellschaft erkannt hatte. Aber anders als der Begriff Erfindung nahelegt, gab es niemals eine Art historischen Nullpunkt, von dem der betreffende ausgehen und etwas ganz Neues entwerfen konnte.

Der Herrscher gelobte, Frieden zu wahren und Recht zu üben

1936, angesichts der Krise der britischen Monarchie, erklärte Stanley Baldwin als Premierminister vor dem Parlament: „Die Krone hat in diesem Land durch die Jahrhunderte viele ihrer Vorrechte eingebüßt, aber heute (…) steht sie für viel mehr, als sie es je in der Geschichte getan hat. Die Bedeutung ihrer Integrität ist ohne Frage viel größer, als sie es jemals war, ist sie doch nicht nur das letzte verbliebene Band des Empire, sondern auch der Schutz dieses Landes (…)  gegen viele Übel, die andere Länder getroffen und geplagt haben.“ Ihre Aufgabe konnte die Monarchie nach Meinung Baldwins nur erfüllen, weil sie eine „einzigartige Institution“ war, ehrwürdig durch ihr Alter und glaubwürdig als Repräsentantin des größeren Ganzen. Angesichts dessen erscheint das, was Cannadine „Erfindung“ nennt, eher als Oberflächenphänomen. Darunter liegt, was für die Bedeutung der britischen Monarchie tatsächlich ausschlaggebend ist.

Das Gemeinte läßt sich an zwei zentralen Akten der Krönung deutlich machen: Eid und Salbung. Der Krönungseid, den Elisabeth II. geleistet hat, erhielt seine heute gültige Form mit der „Glorreichen Revolution“ von 1689. Sein Ursprung geht allerdings bis auf jene angelsächsische „Einweisung“ der Könige zurück, durch die der Herrscher dem Volk gelobte, Frieden zu wahren, Recht zu üben und Gerechtigkeit walten zu lassen.

Neben diese Linie der Überlieferung tritt durch die Salbung eine zweite: die christliche. Das Alte Testament berichtet von der Salbung König Davids durch den Propheten Samuel. Es handelt sich um einen Akt, der in den Germanenreichen, die nach der Völkerwanderung entstanden, aufgenommen und dahingehend umgedeutet wurde, daß durch die Salbung als sakramentalen Akt der König „christus domini“ – „der Gesalbte des Herrn“ werde und dichter an Gott heranrücke als jeder andere Mensch; bezeichnenderweise gestattete Elisabeth II. zwar die Fernsehübertragung ihrer Krönung am 2. Juni 1953, untersagte aber, die Salbung durch den Erzbischof von Canterbury aufzunehmen.

Percy Ernst Schramm hat in seiner maßgeblichen Studie zum englischen Königtum die Auffassung vertreten, daß sich die Stabilität der britischen Monarchie dadurch erkläre, daß sie das Ergebnis eines „Legierungsprozesses“ sei, der im Laufe der Zeit unterschiedliche, anfangs auch feindliche, Elemente zu einer neuen Einheit verschmolz. Die Legierung habe sich als elastisch genug erwiesen, um auch gewandelten Verhältnissen angepaßt zu werden. Ausschlaggebender als das sei aber die Dauer einer Ordnung, der sich nur die des Papsttums vergleichen lasse. Ob dieser Tatbestand noch geeignet ist, die Faszination und Sympathie vollständig zu erklären, die Elisabeth II. bis heute nicht nur in ihrer Heimat zu wecken vermag, bleibe dahingestellt. Vielleicht liegt es näher, darauf hinzuweisen, daß der Mensch so oder so „mit einem unausrottbaren monarchischen Instinkt behaftet“ (Ernst Jünger) ist.