© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Dilemmata des Klimaschutzes in einer globalisierten Welt
Grüne Einäugigkeit ist gefährlich
Erich Weede

Nur Naturwissenschaftler können zu der Frage, wie wahrscheinlich welches Ausmaß des Klimawandels in Abhängigkeit von CO2-Emissionen ist, sachkundig Stellung nehmen. Den Sozialwissenschaftler sollte allerdings zweierlei beunruhigen. Erstens gibt es ein hohes Ausmaß an Politiknähe in der Klimawissenschaft, was man an der Existenz und dem Einfluß des Weltklimarates ablesen kann. Das wirft die Frage auf, ob die Politiknähe der Wissenschaft guttut. Nach dem Philosophen Thomas Kuhn beruht der Erkenntnisfortschritt der westlichen Naturwissenschaft im wesentlichen auf der Politikferne, darauf, daß Wissenschaftler füreinander forschen und schreiben statt für die gerade Regierenden.

Wer sich dieser Auffassung anschließt, muß von der Politiknähe der Klimawissenschaft irritiert sein. Zweitens fällt auf, daß in großen Teilen der Politik und der Medien der Eindruck erweckt wird, daß die zentralen Fragen der Klimawissenschaft beantwortet seien, daß weitgehend Konsens herrsche. Das ist in der Wissenschaft ungewöhnlich. Das könnte aus der Politiknähe folgen. Die Politik kann mit einander widersprechenden wissenschaftlichen Auffassungen wenig anfangen. Politiknähe muß Konformitätsdruck erzeugen, der wissenschaftliche Kontroversen eher abwürgt als fördert. Diese beiden Argumente implizieren nicht, daß die Hauptströmung der Klimawissenschaft irrt. Aber sie erinnern daran, daß es sogar in der Naturwissenschaft keine Gewißheit über den Besitz der Wahrheit gibt. In Anbetracht der dem Klimawandel zugeschriebenen Folgen haben Politiker und Regierungen sich dazu durchgerungen, den Klimawandel zu bekämpfen, zu versuchen, die CO2-Emissionen so schnell und so stark zu vermindern, daß die Erwärmung unter zwei oder besser noch unter 1,5 Grad bleibt.

Damit stellt sich die Frage, wie man die Emissionsminderung organisieren sollte. Diese Frage fällt nicht mehr in die Zuständigkeit der Klimawissenschaftler. Unter Ökonomen gibt es eine Präferenz dafür, entweder die Emissionen steuerlich zu belasten, also mit einem Preis zu versehen, oder aber von den Emittenten den Erwerb von Zertifikaten zu verlangen. Im einen Fall wird der Preis festgelegt und indirekt die Emissionsmenge gesteuert beziehungsweise verringert, im anderen Fall wird direkt die Menge gesteuert und der Preis indirekt bestimmt. Zertifikatehandel oder Emissionssteuer kann man als minimalinvasive Eingriffe bezeichnen, weil die wirtschaftliche Freiheit dadurch längst nicht so stark wie durch planwirtschaftliche Instrumente eingeschränkt wird. Planwirtschaftliche Instrumente sind Verbote von Produktionstechniken oder Produkten – Verbrennungsmotoren sind ein aktuelles Beispiel dafür – oder auch Subventionen, beispielsweise für Elektroautos, Solardächer oder Einspeisungsvorrang zu Garantiepreisen in das elektrische Netz für Windenergie.

Ein berüchtigtes Bespiel für einen planwirtschaftlichen Ansatz ist das deutsche Energie-Einspeisungs-Gesetz, das die deutschen Energiepreise auf ein außerordentlich hohes Niveau gebracht und mit hoher Wahrscheinlichkeit manche energieintensiven Investitionen verhindert hat. Ob das dem Weltklima hilft, darf bezweifelt werden, wenn die in Deutschland verhinderten Investitionen anderswo getätigt werden, wo man den Klimaschutz und die CO2-Emissionen weniger ernst nimmt.

Die schlagkräftigsten und grundsätzlichsten Argumente gegen einen planwirtschaftlichen Ansatz haben österreichische Ökonomen geliefert. Das allgemeinste Argument stammt von dem Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek. Er vertritt die Auffassung, daß Wissen nicht zentralisierbar ist, daß nur dezentrale Entscheidungen die Verwendung des auf Millionen Köpfe verteilten Wissens ermöglichen. Zum Wissen zählt Hayek nicht nur explizites Wissen, das in Texten oder auch mathematischen Formeln festgehalten werden kann, sondern auch implizites Wissen, das in Arbeitsweisen oder sogar Traditionen enthalten ist. Außerdem betont Hayek, daß nicht jedes Wissen Geltung unabhängig von Zeit und Raum beanspruchen kann, sondern Wissen räumlich oder zeitlich gebunden sein kann. Das gilt etwa für das Wissen eines Bauern, was auf welchem seiner Felder besonders gut wächst, oder für das Wissen eines Unternehmers, welcher seiner Lieferanten besonders preisgünstig und zuverlässig ist.

Das Fazit der hayekianischen Überlegungen ist: Planwirtschaft muß scheitern, weil Wissen in keiner Regierung oder Behörde zentralisierbar ist. Das gilt erst recht, wenn man von der statischen zur dynamischen Betrachtung übergeht. Niemand kann vorher wissen, wo und wie sich der Erkenntnisfortschritt entwickelt. Wenn eine Instanz versucht, die Richtung des Erkenntnisfortschritts zu steuern, dann wird vieles gar nicht versucht werden. Diese Einsicht kann man auch konkret mit dem Emissions- und Klimaproblem verbinden. Bei planwirtschaftlicher Steuerung muß die Regierung nicht nur über alles heutige Wissen verfügen, sondern auch über die in naher Zukunft zur Verfügung stehenden Kenntnisse und Technologien. Damit muß jede Regierung überfordert sein. Deshalb wird immer wieder Technologieoffenheit beim Kampf gegen den Klimawandel gefordert.

Es wird nicht leicht sein, planwirtschaftliche Irrungen zu vermeiden, denn die Grünen sind zwar die frühesten und energischsten Kämpfer gegen den Klimawandel, haben sich bisher aber oft als Kapitalismuskritiker und nicht als Verteidiger der wirtschaftlichen Freiheit profiliert. Lange haben sie die Kosten bagatellisiert. In Deutschland verglich ein grüner Politiker einmal die Kosten pro Person mit denen einer Kugel Eis. Andere verwiesen darauf, daß Sonne und Wind keine Rechnung schicken. Inzwischen betonen die Vorkämpfer gegen den Klimawandel lieber die Alternativlosigkeit ihres Kampfes als die nun wirklich nicht niedrigen Kosten. Aber die Neigung der Grünen zur Kapitalismuskritik und deren Affinität zur Planwirtschaft ist geblieben. Nach dem dänischen Sozialwissenschaftler Björn Lomborg ist das nicht belanglos. Je nach Wahl mehr oder weniger kostengünstiger Instrumente zum Klimaschutz könnten sich die Kosten gegenüber dem Unvermeidbaren verdoppeln oder vervierfachen.

Das Ausmaß der Aufgabe hat Lomborg, der dem Weltklimarat in naturwissenschaftlichen Fragen folgt, so beschrieben: Selbst wenn die reichen Länder noch in diesem Jahr ganz mit der Emission von Treibhausgasen aufhörten, würde der Temperaturanstieg bis zum Jahre 2100 nur von 4,1 auf 3,7 Grad Celsius verlangsamt. Ohne Mitwirkung der armen Länder und „emerging markets“ kann es nicht klappen, auch nur in die Nähe des Minimalziels von höchstens zwei Grad zu kommen. Allein China ist für ungefähr genauso viele Emissionen wie die westliche oder nordatlantische Zivilisation verantwortlich. In Anbetracht der Bevölkerungszahlen ist das den Chinesen auch nicht vorzuwerfen. China hat sich bisher zumindest programmatisch wie der Westen zum Ziel von Nullemissionen bekannt.

Schwieriger noch ist der Fall eines genauso volkreichen Landes mit stark steigenden Emissionen, nämlich Indiens. Für Indien und andere arme Länder liegt es nahe, denselben Weg wie zuerst der Westen und später China einzuschlagen: Erst mal reich werden und sich danach um den Klimaschutz kümmern. Wenn man mit Lomborg eine Vervierfachung der Weltproduktion bis 2100 erwartet, könnte danach die Finanzierung des Klimaschutzes für arme Länder machbar sein. Eine Einigung auf den Vorrang des Klimaschutzes gegenüber der Reduzierung der allergrößten Armut in den Entwicklungsländern kann nicht leicht sein. Das gilt vor allem dann, wenn man nicht zu einer Diktatur der reichen Länder und zur Unterdrückung der armen Länder aufrufen will und kann.

Wenn nur der Westen versucht, die CO2-Emissionen zu verringern, kann das nicht reichen. Es besteht sogar die Gefahr, daß ein großer Teil der Effekte westlicher Anstrengungen nur zur Verlagerung von emittierenden Industrien aus reichen in ärmere Länder führt, wo wahrscheinlich weniger auf Reduzierung der Emissionen geachtet wird. Um das zu verhindern, denken europäische Regierungen beziehungsweise die EU daran, künftig mit wenig Rücksicht auf CO2-Emissionen und den Klimawandel produzierte Güter bei der Einfuhr mit einer Abgabe zu belasten und damit bloßen Emissionsverlagerungen aus reichen in arme Länder entgegenzuwirken.

Solange man ausschließlich an das Klima denkt, ist das nur folgerichtig. Aber es ist nur selten richtig, die unerwarteten und unerwünschten Nebenfolgen zu vernachlässigen, wenn man sich auf ein Ziel konzentriert. Es ist weder leicht, eine angemessene Belastung für eine Vielzahl von mit unterschiedlich viel und unterschiedlich schmutziger fossiler Energie hergestellte Produkte zu ermitteln, noch dafür Verständnis bei den betroffenen Handelspartnern zu finden. Fast mit Sicherheit wird man dazu Bürokratien aufbauen müssen, was die eigene wirtschaftliche Freiheit und die Freiheit des Welthandels reduziert, der bekanntlich eine wesentliche Voraussetzung dafür war, in den letzten Jahrzehnten (vor der Corona-Pandemie) mindestens eine Milliarde Menschen aus bitterster Armut zu befreien. Die Schwierigkeiten der Ermittlung angemessener Klimazölle für Importgüter werden Partikularinteressenten in reichen Ländern mit protektionistischen Interessen aktivieren, was den freien Welthandel weiter gefährden muß. Außerdem stellt sich die Frage, inwieweit Klimazölle in Übereinstimmung mit den Statuten der Welthandelsorganisation zu bringen sind. Klimazölle könnten der Einstieg in eine globale Planwirtschaft werden.

Natürlich kann man das ausklammern und nur das Ziel des Klimaschutzes durch Belastungen für „schmutzig“ hergestellte Produkte an den Grenzen der westlichen Zivilisation verfolgen. Dann darf man aber nicht damit rechnen, daß es zu koordinierten Anstrengen von Nord und Süd oder vom Westen und China beim Klimaschutz kommen kann. Mit der Behinderung des Freihandels zwecks Klimaschutz wird außerdem die friedensfördernde Wirkung des Freihandels beschädigt. Wenn man die Richtigkeit der Aussagen und Befürchtungen des Weltklimarates unterstellt, dann folgt daraus nicht, daß ökonomische oder geopolitische Fragen zweitrangig sind, sondern daß sich die ökonomische Frage der Vermeidung unnötig hoher Kosten beim Ausstieg aus fossilen Energien stellt – und zudem das geopolitische Problem auftritt, Großmacht­rivalitäten nicht durch (klimapolitisch gerechtfertigten) Protektionismus zu befeuern. Somit gilt es, ein Umfeld für international koordinierte Maßnahmen zum Klimaschutz zu schaffen. Wer will schon das Risiko eines nuklearen Winters als Folge eines Atomkrieges erhöhen wollen, um die aus CO2-Emissionen folgenden Risiken zu verringern?

Jede rationale Auseinandersetzung mit dem Klimaproblem muß zwei Arten von Kosten gleichzeitig im Auge behalten: erstens die Kosten, die auf uns zukommen, wenn wir durch Emissionen das Klima aufheizen; zweitens die Kosten, die der Versuch impliziert, den Klimawandel zu verhindern. Letztere beinhalten nicht nur hohe und inflationär weiter steigende Energiepreise, sondern auch Gefahren für die Netzstabilität und das Risiko von zeitweiligen und vielleicht sogar großflächigen Zusammenbrüchen der Elektrizitätsversorgung, die Förderung einer unvermeidbar ineffizienten Planwirtschaft, länger andauernde bittere Armut in Entwicklungsländern, zusätzliche internationale Spannungen und die Abschwächung des friedensfördernden Effekts des Freihandels. Grüne Einäugigkeit kann richtig gefährlich werden.






Prof. em. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Einmischung ausländischer Mächte in Afghanistan („Ein großes Unverständnis“,       JF 37/21).

Foto: Chinesischer Arbeiter vor rauchenden Schornsteinen eines Stahlwerks in Loudi, zentralchinesische Provinz Hunan: Wenn nur der Westen versucht, die CO2-Emissionen zu verringern, kann das nicht reichen