© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

US-Medizin gegen Trümmer und Stalin
Der Marshallplan 1947: Die Stunde der Militärs und Manager
Lothar Höbelt

Der Marshallplan erfreut sich eines guten Rufes. Kein Wunder: Immerhin wurde sein Namensgeber 1953 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. „Sein“ Plan – am 5. Juni 1947 in einer kurzen, nur elf Minuten langen Rede in Harvard erstmals vorgestellt – muß seither als vielbewundertes und mißverstandenes Vorbild herhalten: Wann immer irgendwo auf der Welt die wirtschaftliche Misere in den Blick rückt, wird wie das Amen im Gebet der Ruf nach einem neuen Marshallplan laut, ohne einen Blick auf die Voraussetzungen zu werfen. Denn der Marshall-Plan war eben nicht als „Entwicklungshilfe“ gedacht, sondern das „European Recovery Programm“ (ERP) sprach ausdrücklich von „Genesung“, sprich: Wiederherstellung eines Zustands, wie er schon einmal bestanden hatte. Dabei ging es um längst hochentwickelte Länder mit exzellentem „Humankapital“, denen bloß aufgrund von Krieg und Kriegsfolgen das restliche Kapital fehlte. Wenige unserer heutigen Krisenzonen weisen solche Voraussetzungen auf.

Sieger ebenso wie Besiegte in Europa litten unter Devisenmangel

Beim Marshallplan ging es auch nicht um Empathie und milde Gaben, im Gegenteil. Man wollte die Hilfslieferungen der Uno abbauen und keine Kultur der Abhängigkeit entstehen lassen. Wer auf Dauer vom Ausland gefüttert wird, baut bald selbst nichts mehr an, besonders wenn da noch allerlei Relikte kriegswirtschaftlicher Bestimmungen im Raum stehen. Das Schlagwort hieß: Hilfe zur Selbsthilfe. Die Hilfe der Uno, de facto natürlich in erster Linie der Amerikaner, die ja längst angelaufen war, sollte umorientiert werden und nicht länger in den Konsum fließen, sondern in Investitionen, die sich die Europäer aus Devisenmangel sonst nicht hätten leisten können. Denn die Europäer litten unter der „Dollarlücke“ – und zwar die ehemaligen Verbündeten der USA nach dem Auslaufen der Leih-und-Pacht-Gratislieferungen der Kriegszeit nicht weniger als die Besiegten.

Die Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache: Die schon 1943 ins Leben gerufene UNRRA (auch hier handelte es sich um medizinische Begriffe: „Relief“ – wörtlich: Erleichterung und Rehabilitation) sollte vor allem ehemals besetzten und jetzt befreiten Ländern zugute kommen. Ihre Hauptnutznießer waren daher, statistisch gesehen, durchaus folgerichtig China und Polen. Großbritannien schien im Rahmen der UNRRA noch als Sponsor auf, beim Marshallplan mutierte es dann zum mit Abstand größten Empfängerland. Freilich, nach Lieferungen pro Kopf gerechnet, schnitten die kleineren „Frontstaaten“ besonders günstig ab: Norwegen mit seiner Grenze zur Sowjetunion und das damals noch nicht immerwährend neutrale, sondern im Osten von der Roten Armee besetzte Österreich wurden überproportional bedacht. 

Dahinter stand natürlich ein politisches Motiv: Der Marshallplan vom Juni 1947 stand in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Truman-Doktrin vom März 1947. Die USA waren nun aufgewacht und hatten sich von ihren Illusionen über „Uncle Joe“ Stalin befreit. Diese Wende war ein Erfolg der „Umerziehung“ – Umerziehung nicht der Deutschen (die fand erst Jahrzehnte später in Eigenregie statt), sondern Umerziehung der US-Amerikaner zur Realpolitik. Die USA hatten sich ursprünglich bald wieder aus Europa zurückziehen wollen – in dem Punkt waren sich isolationistische Rechte und blauäugige Linke einig. Dagegen wehrten sich sowohl die Briten als auch viele Deutsche, die nicht mit den Sowjets alleingelassen werden wollten. Der „Kalte Krieg“ war nicht zuletzt ihr Erfolg.

Der Marshallplan wirkte in dieser Beziehung als Katalysator. Die Sowjets verboten ihren Satelliten die Teilnahme am ERP. In Ungarn hatte die Gleichschaltung schon einige Monate vorher stattgefunden. In Prag stimmte das Kabinett dem Marshallplan zunächst zu. Erst danach wurde aus Moskau kehrt marsch befohlen. Das Ergebnis war eine schleichende Regierungskrise, die im Februar 1948 mit der Machtübernahme der Kommunisten endete. In Österreich trug der einsame KP-Minister die Entscheidung zunächst noch mit und schied dann erst im Herbst aus. In Frankreich wurden die bis dahin recht einflußreichen Kommunisten im Sommer 1947 aus der Regierung gedrängt. 

Auf der anderen Seite waren im Februar 1947 die Friedensverträge mit den „Achsenpartnern“ wie Italien und Finnland unter Dach und Fach gebracht worden. Aufgewertet wurden im Sinne dieses Schlußstrichs die Verlierer des Krieges, zumindest die im Westen, unabhängig davon, was die „Vergangenheitsbewältiger“ in den Redaktionen und Fakultäten später einmal dazu sagen würden. In Deutschland ließ der neue Hochkommissar General Lucius Clay, der sich in der Normandie mit der Organisation des Nachschubs einen Namen gemacht hatte, von einem Top-Manager einen „Report on Germany“ ausarbeiten, wie man das Land wieder auf Vordermann bringen könne. 

Der Marshallplan war eine Erfolgsgeschichte, vielleicht gerade deshalb, weil er nicht das Kind von Visionären war, sondern ein Ergebnis pragmatischer Vernunft. Der neue US-Außenminister George C. Marshall war selbst Berufsoffizier, politisch ungebunden, aus einer der großen alten Familien Virginias, wie sein Chef Truman beheimatet in der Tradition des Südens. Beide waren sie – als Generalstabschef und Vizepräsident – hochrangige Vertreter der Roosevelt-Administration gewesen, aber ungeliebte Kinder, am Rande der Ungnade. Ein Experte hat unlängst erklärt, Roosevelt habe Marshall nahezu gehaßt und ihn während des gesamten Krieges fast nie unter vier Augen gesprochen. Truman aber wurde 1944 als Nachfolger installiert – von der Partei, nicht von Roosevelt, der an ihm allenfalls bedeutend fand, daß er keine eigene Meinung zu haben schien.

Der Marshallplan sollte der Zentralverwaltungswirtschaft der Sowjetunion eine attraktive Alternative gegenüberstellen – eine freie Weltwirtschaft? Jein! Natürlich: Das bewunderte amerikanische Vorbild galt als das kapitalistische Aushängeschild. Die OECD sollte den freien Handel innerhalb der Teilnehmerländer befördern. Doch der Marshall-plan war immer noch ein Plan. Um in den Genuß seiner Mittel zu kommen, mußte man Pläne vorlegen, die von gemischten Gremien begutachtet wurden, besetzt mit politischen Experten beider Seiten. Mit Vorliebe wurden Großprojekte bedacht, darunter auch solche verstaatlichter Firmen. August von Hayek kritisierte, durch die Hilfe von außen würden diverse kriegswirtschaftlichen Relikte aufrecht erhalten. In Deutschland ging Wirtschaftsminister Ludwig Erhard da in puncto Liberalisierung teilweise bald schon viel weiter.

Übergang zwischen Krieg und Wirtschaftswunder bewältigen

Der Marshallplan war auf vier Jahre angelegt, von 1948 bis 1952. Er wurde 1950 überlagert vom Koreakrieg, der für Verwerfungen sorgte, für Lieferengpässe, aber auch für Absatzmöglichkeiten. Erst nach seinem Ende trat Europa ab 1954 in das Zeitalter des Wirtschaftswunders ein, mit Deutschland und Italien an der Spitze, die ihre ehemaligen Kriegsgegner England und Frankreich bald überholten. Wenn anfangs der Gedanke mitgespielt hatte, den Marshallplan als Beschäftigungstherapie aufzufassen, der eine Nachkriegsdepression in den USA verhindern sollte, so erwies er sich in dieser Beziehung bald als überflüssig. Die eigentliche Wachstumschance ergab sich nicht aus der „Ausbeutung“ unterentwickelter Märkte, sondern aus dem Handel zwischen den hochindustrialisierten Kernen der Weltwirtschaft.

Es ist ein kurioser Vorwurf, der Marshallplan hätte US-Interessen gedient. Was denn auch sonst? Die heutige Maxime, daß Regierungen in erster Linie für Dinge belobigt werden, die ihren Bürgern schaden, war ein Topos, der sich damals weder diesseits noch jenseits des Atlantik fand. Erfolgreiche Politik besteht nicht aus „Gutmenschentum“. Der Marshallplan füllte eine Lücke, er half den Übergang bewältigen zwischen Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder, die Schubumkehr zwischen dem Weltkrieg und dem Kalten Krieg zu vollenden. Nur ein kleiner Teil der Lieferungen mußte zurückgezahlt werden. In Deutschland fiel die Bilanz dann in den fünfziger Jahren zusammen mit einer Generalabrechnung der Vorkriegsschulden. Insgesamt soll der Umfang der Lieferungen in den fraglichen vier Jahren etwa drei Prozent des Volkseinkommens der Empfänger betragen haben. Die Lieferungen mußten von den Firmen, denen sie zugute kamen, in der Landeswährung bezahlt werden. Diese sogenannten „Counterpart-Mittel“ bildeten einen Kapitalstock, der für weitere Kredite verwendet werden konnte. 

Der Marshall-Plan verdankt sein Entstehen einer schwer wiederholbaren Situation. Zum Unterschied von vielen anderen Krisengebieten hätte sich für den Wiederaufbau des alten Kontinents prinzipiell sehr wohl Privatkapital finden müssen. Doch nicht, solange die Sowjets vor den Toren standen – und niemand energisch dagegenhielt. Da war die Politik gefragt. In diesem Sinn bilden Kalter Krieg und Marshallplan eine Einheit. Kredite beruhen auf Vertrauen und Sicherheiten. Es war das offenkundige militärische Engagement der USA, für ein paar Jahre noch Alleinbesitzer der „Bombe“, das Westeuropa nach der Initialzündung durch das ERP bald auch für Privatkapital wieder attraktiv machte.