© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Gigant am Scheideweg
Der US-Wirtschaftsjournalist Brad Stone beleuchtet Aufstieg und Zenit der Weltfirma Amazon
Ludwig Witzani

Gerade einmal 31 Jahre alt war Jeff Bezos, als er im Juli 1994 den Internetbuchhandel „Amazon“ gründete. Das Geld zur Finanzierung der Software erhielt er als Kredit von seinen Eltern, und seinen ersten Schreibtisch baute er in einer Vorstadtgarage von Seattle zusammen. Der Börsengang des Jahres 1997 machte ihn zum Millionär, und auch das Platzen der Internetblase im Jahre 2001, dem so viele Internet-Eintagsfliegen zum Opfer fielen, konnte ihn nicht bremsen. Spätestens in den Nuller Jahren wandelte sich Amazon von einem Internetmarktplatz zu einem weltweit operierenden Technologiekonzern, der auf immer neue Märkte ausgriff. Heute ist Amazon mit einem Umsatz von 470 Milliarden US-Dollar, einem Gewinn von 33 Milliarden US-Dollar und 650.000 Beschäftigten neben Apple eines der am höchsten bewerteten börsennotierten Unternehmens, und Jeff Bezos mit einem Privatvermögen von 170 Milliarden US-Dollar einer der reichsten Männer der Welt – und das nach einer teuren Scheidung.

Wie war das möglich, und was bedeutet der kometenhafte Aufstieg Amazons für Wirtschaft und Gesellschaft des 21. Jahrhunderts? fragt der  amerikanische Wirtschaftsjournalist Brad Stone und gibt in seinem Buch „Amazon unaufhaltsam“ eine durchaus ambivalente Antwort: Amazons welt-weiter Erfolg beruht auf einer immer weiter getriebenen digitalen Durchdringung der Alltagswelt, zu deren Erfolgsgeschichte es gehört, die Einzelheiten dieser Durchdringung gerade nicht für jedermann transparent zu machen.  

Diese Transparenz herzustellen ist das Hauptverdienst des vorliegenden Buches, wobei sich der Autor trotz seiner kritischen Grundhaltung um Ausgewogenheit bemüht. Ähnlich wie Walter Isaacson in seiner wegweisenden Steve-Jobs-Biografie verliert auch Brad Stone bei aller Kritik an Amazon  Jeff Bezos’ besonderen Rang als Wirtschaftsführer nicht aus den Augen. An mehreren Stellen bezeichnet er Bezos als „den wahrscheinlich fähigsten CEO der Welt“, als einen Visionär von überwältigender Intelligenz und Tüchtigkeit, der früher als andere Möglichkeiten, Trends und Chancen erkennt und – was das Besondere ist – immer in Tuchfühlung mit den operativen Details bleibt. „Amazon Go“, „Fulfillment Center“, „Amazon Web Services“, „Prime Video“ und viele andere Geschäftsfelder mehr entstehen und expandieren unter dem strengen Regiment des Chefs, den seine Mitarbeiter zugleich fürchten und verehren. Am Ende verweist Amazon fast alle seine Mitkonkurrenten auf die Plätze. Im internetbasierten Einzelhandel liegt Amazon weit vor Wal Mart, im zukunftsträchtigen Cloud-Geschäft hat Amazon Microsoft abgehängt, und inzwischen hat Amazon auch im weltweiten Streaming-Geschäft den ursprünglichen Marktführer Netflix auf die Plätze verwiesen.  

Alle Schlupflöcher ausnutzend zahlt Amazon kaum Steuern

Allerdings, so Stone, vollzog sich dieser Aufstieg unter Einsatz harter Bandagen und mitunter am Rande der Legalität. Ein wesentlicher Teil des Buches besteht in der minutiösen Beschreibung dieser Praktiken, die mittlerweile Kritiker von links und rechts gleichermaßen auf den Plan rufen. Von konservativer Seite wird die Bedrohung des kleinen Unternehmertums durch die übermächtige Dominanz eines weltweiten Internetmarktplatzes beklagt.  In Indien wurde mit diesem Argument übrigens der volle Markteinstieg Amazons aus Rücksicht auf die gewerbetreibende Wählerschaft der regierenden BJP bislang blockiert. Linke beklagen die Härte der Personalführung, die Knausrigkeit der Entlohnung und die fehlende gewerkschaftliche Vertretung der Amazon-Belegschaft. So kundenfreundlich sich das Unternehmen nach außen auch gebärdet, so knallhart feuert es jeden sogenannten „Underperformer“. Auch daß Amazon – ebenso wie viele andere Technologiefirmen – durch Ausnutzung aller legalen Schlupflöcher kaum Steuern zahlt, wird mit Recht skandalisiert. Ein US-Senatsausschuß, der sich ab 2019 auch mit Amazon beschäftigte, empfahl eine effektivere staatliche Kontrolle, mehr Regulierung und im Extremfall sogar die Zerschlagung. 

Aber Amazon wäre nicht das extrem innovative Unternehmen, das es ist, wenn es sich nicht zu wehren wüßte, schreibt Stone und zählt drei Methoden auf: Abstreiten, Ablenken und Kompensieren. Als Amazon wegen der Entlassung interner Whistleblower angeprangert wurde, stritt die Firmenleitung den Sacherhalt einfach ab und verwies auf scheinbar legale Kündigungsgründe für jeden einzelnen Fall. Als sich Bernie Sanders über die mickrigen Löhne der Amazon-Lagerarbeiter beschwerte, erhöhte Bezos die Löhne, ließ aber unter der Hand die Aktienvergünstigungen wegfallen, was im Endeffekt auf das gleiche herauskam. Peinlich, daß sich der wirtschaftsunkundige Sanders für diesen Taschenspielertrick auch noch bei Bezos bedankte. Ohne daß es Stone ausdrücklich sagt, gewinnt der Leser den Eindruck, als sollten die Anti-Trump-Attacken der Bezos-Zeitung Washington Post und die plakativen Bekenntnisse zu Diversität, Feminismus, „Black Lives Matter“ und Klimaneutralität immer dann Druck aus dem öffentlichen Kessel nehmen, wenn die Kritik am Unternehmen gerade besonders virulent daherkommt. Natürlich hat es ein Geschmäckle, wenn am 20. September 2019 Tausende Amazon-Beschäftigte ihre Schreibtische verlassen dürfen, um sich Greta Thunbergs Klimastreik anzuschließen, während zeitgleich der kritische Abschlußbericht des Senatsauschusses glattgezurrt wird.  

Bei all diesen Details, von denen das Buch förmlich überquillt, überrascht Stones fast resignatives Fazit am Ende des Buches. Stone konzediert, daß Amazon und die mit ihr verbundene Bequemlichkeit ein Teil unseres Lebens geworden ist, denn  „Türen sind geöffnet worden“, durch die man nicht mehr zurückgehen könne. „Vor langer Zeit sind wir durch eine solche Tür getreten und damit hinein in die von Technologie bestimmte Gesellschaft, die in weiten Teilen von Jeff Bezos und seinen Kollegen entworfen und geformt wurde. Was auch immer man von dem Unternehmen und dem Mann halten mag, die gemeinsam ein so großes Stück unserer wirtschaftlichen Realität im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kontrollieren – jetzt gibt es kein Zurück mehr.“ 

Diesem Fazit muß man gerade nach der vorliegenden Lektüre nicht unbedingt zustimmen. In der Gestalt von Amazon, aber auch, was Apple, Google und Facebook betrifft, deutet sich ein neuer Feudalismus an, der bei extrem hoher Leistungsfähigkeit das Recht für sich in Anspruch nimmt, soziale Standards und Wertorientierungen an staatlichen Instanzen vorbei neu zu setzen.  

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam. Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft. Ariston Verlag, München 2021, gebunden, 544 Seiten, 26 Euro

Foto: Amazon-Chef Jeff Bezos auf der Weltklimakonferenz in Glasgow 2021: Mit plakativen Bekenntnisse zu Diversität, Feminismus, „Black Lives Matter“ oder Klimaneutralität immer dann Druck aus dem öffentlichen Kessel nehmen, wenn die Kritik am Unternehmen besonders virulent ist