© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/22 / 03. Juni 2022

Der Flaneur
Wofür denn schämen?
Paul Meilitz

Mein Freund hat eine Tochter. Er hat auch einen Sohn, aber die Tochter ist spezieller. Sie ist 22, verfügt über keine Ausbildung und tingelt durch Gelegenheitsjobs, ohne Rentenpunkte anzusammeln. Kürzlich traf ich besagten Freund zufällig in einem Bistro. Wir tauschten uns gerade über die Großwetterlage aus, als seine Tochter in den Raum glitt. 

Ein markanter, auf und ab wippender Gang ist ihr Alleinstellungsmerkmal. Dabei verdreht sie bei jedem Schritt ihren Oberkörper um wenige Grad nach rechts und links. Das wirkt gekonnt. Die stets dunkel geschminkten Augen leuchten gleichzeitig das Terrain aus und erfassen männliche Echos. Gut zehn Jahre hat sie noch Zeit, höre ich mein schwärzestes Inneres lästern, dann ist der Bummelzug in Richtung eines passenden Vollversorgers abgefahren. 

Allerdings verlief das Erwachsenenwerden meiner Töchter ohne Internet-Gehirnwäsche.

Als sie ihren Vater entdeckte, verwandelte sie ihr Alltagslächeln gegen in die Stirn eingegrabene Sorgenfalten und nahm Kurs in unsere Richtung. Zugleich gefror meinem Freund der eben begonnene Satz im Mund. Da kam wohl etwas Unaufschiebbares fast schon drohend näher. 

Ein knapper, wortlos-bohrender Blick der Tochter verbannte mich umgehend an den Nebentisch. Das väterliche Antlitz entspannte sich immerhin, je länger der Nachwuchs den Kummerkasten leerte. Keine fünf Minuten später wippte das ansehnliche Wesen mit aufgefrischtem Lächeln ins Freie. An meinem alten Platz erfuhr ich Unglaubliches. „Meine Tochter hat ein Problem mit „Fat shaming“, grinste mich mein Freund an. 

Ihr aktueller „Lover“ habe ihre Fettpölsterchen reklamiert. Das mindere die Attraktivität. Dagegen wolle die so Abgeurteilte sofort vorgehen, wisse aber noch nicht wie. In jedem Fall würde neben väterlichem Mitgefühl auch dessen Geldbeutel benötigt. Andernfalls, so das Ultimatum der leidgeprüften Tochter, mache ein Weiterleben wenig Sinn. Meine Töchter hatten mich mit solch existentiellen Frage übrigens nie behelligt. Allerdings verlief deren Erwachsenwerden ohne Internet-Gehirnwäsche. Der noch in sich gekehrte Freund spendierte sofort einen Caffè Latte, als ich für seine in die Fettscham geratene Erbin das passendere „Unskilled shaming“ (Nichts-gelernt-Scham) anbot. Endlich konnten wir weiter über die Großwetterlage plaudern.