© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Konflikte vermeiden
Warum unterwirft sich die CDU immer wieder dem „woken“ Zeitgeist?
Werner J. Patzelt

Schon vor Jahrzehnten hat die Allensbacher Demoskopin Noelle-Neumann auf die politisch wichtige Dynamik von Schweige- und Redespiralen aufmerksam gemacht. Diesen Verständnisschlüssel braucht man, um das Verhalten der heutigen CDU zu erklären. Warum gibt sie sich inzwischen so „woke“, also aus aufs Vermeiden von Konflikten mit jeder als progressiv auftretenden Minderheit? Und wird, so auftretend, die CDU der von ihr zu übernehmenden Rolle in Deutschlands Politik gerecht?

Eine Schweigespirale setzt ein mit dem Gefühl von Menschen, sie könnten sich mit bestimmten Aussagen unter ihresgleichen oder öffentlich isolieren. Also versuchen sie, Anlässe für alles zu vermeiden, was sie an den Pranger zu stellen droht und am Ende aufs Erleiden von „Cancel Culture“ oder „Deplatforming“ hinauslaufen mag. Deshalb werden Meinungen, nach deren Äußerung man Ausgrenzung befürchtet, zwar gehegt, doch tunlichst nicht vorgebracht. 

Etwa verzichtet man auf Kritik am Gendern, weil es sonst erwartbar Ärger gibt. Vollzieht sich derlei massenhaft, so verstummen immer mehr Leute im privaten oder öffentlichen Gespräch, ohne deshalb schon ihre Meinung zu ändern. Dann hört man, beispielsweise, nicht mehr viel über Parallelgesellschaftlichkeit im eigenen Land oder von entsprechenden Sorgen. 

Anschließend beginnen immer mehr zu bezweifeln, daß sie mit solchen Ansichten recht haben könnten, die andere weder äußern noch gar in Gesprächen unterstützen. Vielleicht – so mag man sich fragen – gibt es ja wirklich keine deutsche Kultur; und wenn, dann wäre sie wohl wertlos oder übel. Alsbald läßt man bislang für richtig Gehaltenes in sich selbst verblassen und entdeckt die Vorzüge einer Parteinahme für „politisch Korrektes“. Beifall tut nämlich wohler als Kritik.

Genau diese Dynamik hat Noelle-Neumann etwa beim Einstellungswandel der Deutschen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie demoskopisch nachwiesen. Bis zur Mitte der 1980er Jahre überwog der Anteil ihrer Anhänger. Doch schon seit den 1970er Jahren nahmen die Deutschen in den Medien ein Überwiegen gegnerischer Positionen wahr. Dieser Eindruck verstärkte sich bis in die späten 1980er Jahre, und demselben Trend folgte die eigene Haltung zur Kernenergie. Um 1985 überwog dann der Anteil der Kernkraftgegner den ihrer Befürworter. 25 Jahre später kippte die Regierungsposition. Dieselbe Dynamik beim Schwinden katholischer Glaubensinhalte hat schon Tocqueville in seinem Buch über die kommunikative Vorbereitung der Französischen Revolution während des Ancien régime beschreiben.

Zunächst einmal wirkt hier das, was „sozialoptische Täuschung“ heißt: Aufgrund medialer Berichterstattung täuscht man sich über die in einer Gesellschaft tatsächlich vorherrschenden Meinungen. Solche Fehlwahrnehmungen kann stets zum eigenen Vorteil nutzen, wer die mediale Vorherrschaft oder kulturelle Hegemonie errungen hat. Hinwirken läßt sich darauf durch die Erzeugung von medialen „Redespiralen“. Durch solche wird, abhängig von den Konjunkturen öffentlicher Resonanz, etwa das Waldsterben, die Klimakatastrophe oder ein drohender Dritter Weltkrieg ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. 

Weil empirische Journalistenumfragen seit Jahren zeigen, daß über zwei Drittel der deutschen Journalisten den Grünen oder Sozialdemokraten zugetan sind, muß auch nicht wundern, daß genau deren Themen und Wünsche das Zeitgespräch und dessen Ausgrenzungsprozesse bestimmen – und so, mit langfristiger Erziehungswirkung, die tatsächliche Meinungsverteilung umformen.

Hier kommt nun der Ausgangsmechanismus von Schweigespiralen ins Spiel. Das ist der Wunsch, sich sozial nicht zu isolieren. Bei Politikern gerät er zum Unwillen, in Talkshows jenes „Krokodil“ abzugeben, das im Kaspertheater unserer öffentlichen Diskurse verprügelt wird, und zwar zur Erbauung der Anständigen, politisch Korrekten und „Woken“. Von solchen Erfahrungen belehrt, bequemt man sich heute am besten zum Sprech- und Denkverhalten der Grünen. Die gleiche Wirkung zeitigt es bei etablierten politischen Parteien, wenn sie schwindende kommunikative Resonanz erfahren, abnehmende gesellschaftliche Verwurzelung erleben und Wählerstimmen verlieren. Das zu vermeiden ist aber das Überlebensgebot einer Partei. Also fängt sie an zu beschweigen, was mediale Minuspunkte einbringt, und beginnt zu bereden, wofür Applaus zu erwarten ist.

Die einst sich sozialdemokratisierende, dann willig ergrünende und nun zu nacheilender Wokeness gedrängte Union ist ein vortreffliches Beispiel für die Wirkungsweise all dessen. Durchaus kann man es ihr nicht verdenken, wenn sie Wähler lieber anziehen als vergraulen will. Dafür grüßt sie, solange das als für einen Wahlsieg wichtig erscheint, inzwischen sogar alle Geßlerhüte, die ihre linke Gegnerschaft aufstellt. 

Doch politischer und geistiger Pluralismus entfalten ihren Mehrwert nun einmal nur dank der Dialektik von Position und Gegenposition. Um das Auftreten neuer Gedanken und von Antithesen zum Bestehenden muß man sich in unserer Gesellschaft gottlob nicht sorgen. Doch was wird, wenn erprobte Einsichten verblassen und niemand mehr Bewährtes verficht? Dann gerät der politische Diskurs zur Modenschau und begibt sich das von ihm geprägte Gemeinwesen auf Schlingerkurs. 

Will man das vermeiden, so braucht es eine Partei, die zwar alles Neue gern prüft, doch nur sich weiterhin Bewährendes in ihr Portfolio aufnimmt. Eine in genau diesem Sinn konservative Partei leistet dem Gemeinwesen jenen sehr wichtigen Dienst, den Fortschrittliche ihm gerade nicht erbringen können. Wegen der unvermeidlichen Wirkungsweise von Schweige- und Redespiralen ist dieser Dienst für gutes Regieren sogar notwendig. Erbringt ihn die CDU nicht, so wird sie entbehrlich. Und in genau diesem Sinn wird die CDU der Zukunft entweder konservativ sein oder – weil überflüssig – verkümmern.






Prof. Dr. Werner J. Patzelt ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Politische Systeme an der Technischen Universität Dresden.