© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

„Sie löschen dich aus“
Cancel-Kultur: Vor Uwe Tellkamp war Thor Kunkel wie dieser einmal ein gefeierter Autor. Heute werden seine Bücher verrissen, totgeschwiegen, ja gezielt sabotiert: Etwa sein neuer Roman „Im Garten der Eloi“, ein modernes Sittenbild
Moritz Schwarz

Herr Kunkel, alle sprechen zur Zeit von „Der Schlaf in den Uhren“, dem neuen Buch von Uwe Tellkamp ... 

Thor Kunkel: ... und niemand bedauerlicherweise von „Im Garten der Eloi“, meinem neuen Roman.

Kein Wunder, Tellkamp ist ein gefeierter Schriftsteller, errang 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis, schrieb Bestseller, „Der Turm“ wurde fürs Fernsehen verfilmt. 

Kunkel: Wo ist der Unterschied? Mein verfilmter Roman „Subs“ lief im Kino. Und um den Bachmann-Preis bin ich 1999 „dank“ der Intervention einer ausgemachten Feministin gebracht worden, wobei mir nur eine Stimme fehlte. Tja, wie man in den USA sagt: First is first – and second is nobody.

Na ja, trotzdem wurden Sie für Ihren Bestseller „Das Schwarzlicht-Terrarium“ mit Elogen überschüttet, erhielten Preise, Fördergelder, konnten sich vor Anfragen kaum retten. Sie galten als die „deutsche Antwort auf Pulp Fiction“ („Die Woche“), „als einer der heißesten Nachwuchsschriftsteller Deutschlands“ („The Guardian“) – von Martin Walser über Peter Sloterdijk bis zum Sänger „Bela B.“ von den „Ärzten“ nur Lob.

Kunkel: Und deshalb beobachte ich mit Grausen, was mit Uwe Tellkamp passiert. Der klagt zu Recht, Opfer der Cancel Culture zu sein, doch was er jetzt erlebt, ist erst der Anfang. Noch ist er Thema in allen Medien, sein Buch wird überall rezensiert. 2004 ging es mir mit meinem Roman „Endstufe“ genauso – doch das echte Canceln beginnt erst, wenn die Medien dich gezielt totschweigen, wenn sie so tun, als würdest du nicht mehr existieren!

Sie meinen, Sie sind der Tellkamp von gestern und Tellkamp der Kunkel von morgen?

Kunkel: Interessante Formulierung. Ich habe mir damals jedenfalls nicht vorstellen können, was mir angetan werden würde, obwohl mich mein damaliger Verleger Alexander Fest warnte: „So glänzend ich ‘Endstufe’ ästhetisch und literarisch finde ... Sie ahnen allenfalls wie angreifbar Sie sind ... und mit welcher Wucht dieser Angriff kommen kann!“ Ich fürchte, Tellkamp unterschätzt, daß die Medien dich – trotz allen Ruhms – völlig auslöschen können.

Vielleicht sind Ihre heutigen Romane literarisch einfach nicht mehr gut. 

Kunkel: Na ja. Ich zitiere aus einer mir zugespielten vertraulichen E-Mail des ARD-Kulturmagazins „Titel, Thesen, Temperamente“: „Wir wollen die Verkaufszahlen dieses Buches“ – gemeint ist „Im Garten der Eloi“ – „nicht pushen. Unsere Sendezeit haben bessere, nicht rechts-lastige Autor:innen viel mehr verdient.“ Daher weht also der Wind. Weiter heißt es in der E-Mail: „Roland Tichy und Matthias Matussek äußern sich positiv über den Roman“, was „für sich“ spreche. Und man wirft mir vor, daß unsere Schweizer Agentur die AfD im Wahlkampf 2017 beraten hat. Na und? Ich arbeite seit 1986 in der Werbung und habe als Student auch Plakate für die Frankfurter Grünen entworfen – was mir natürlich keiner ankreidet, egal wie radikal die einst waren. 

Immerhin eine Rezension in der „Welt“ haben Sie bekommen, einen Verriß, und eine im öffentlich-rechtlichen Südwestrundfunk, darin heißt es: „Kunkel liefert ein Feuerwerk an grotesken Einfällen. Der Ex-Werbefachmann kann wortgewaltig zu- und überspitzen … Aber was als wundervolle Milieu-Satire beginnt, gerät zur zynischen, passivaggressiven Rachephantasie. Immer mehr kippt der Roman nach rechts außen … Statt einer Analyse der Heucheleien des linken Milieus gibt es zum Ende nur noch Polemik und derbe Flüche … (was) den Humor abwürgt, den Plot ausfranst.“

Kunkel: Es ist schlimm, wenn Rezensenten nicht mehr wissen, daß es ein literarisches Ich gibt, der Autor also nicht identisch mit seinem Personal ist. Im übrigen stelle ich dagegen die Worte eines ehemaligen Zeit-Herausgebers an mich: „Was Sie da geschrieben haben, hätte so in der Fackel von Karl Kraus stehen können.“ Der Mann gehört noch zur alten Garde. Und ein anderer Literaturkritiker, der mich ausdrücklich bat, seinen Namen nicht zu nennen, schrieb mir: „Ihr ‘Garten’ ist die genialste Mischung aus Tucholsky und Kafka, die ich je gelesen habe. Kein Wunder, daß Matthias Matussek Sie so verehrt!“ Doch auch seine Zeitung weigert sich leider, das Buch zu rezensieren. Und so geht es nun auch meinem nächsten Roman „Welt unter“, der Anfang Juli erscheint. 

Inwiefern?

Kunkel: Am Freitag hat die Buchhandelskette Hugendubel überraschend ihre zugesagte Marketing-Unterstützung zurückgezogen – und am Dienstag LovelyBooks, eines der großen sozialen Netzwerke für Literatur. Begründung: Meine Bücher und ich hätten „Polarisierungspotential“ – was früher übrigens kein Schandfleck, sondern ein Qualitätsmerkmal war. Zudem haben sie dem Europa-Verlag empfohlen, auf Werbeaktionen mit mir zu verzichten. Das ist natürlich Diskriminierung in Reinkultur und soll den Verlag bewegen, mich fallenzulassen. Glücklicherweise ist mein Verleger, Christian Strasser, ein Ehrenmann, der dem Wort – seinem und meinem – noch Bedeutung beimißt. 

Worum geht es in Ihren neuen Romanen?

Kunkel: „Welt unter“ ist eine Mischung aus Klima-Thriller und Abenteuerroman, in dem die Natur zur Überraschung der Menschheit eine eigene Antwort auf die Erderwärmung findet. „Im Garten der Eloi“ ist ein Sittenbild des aberwitzigen, woken Milieus, in dem die hypersensible Wahrnehmung von Geschehnissen wichtiger geworden ist als das, was in realis geschieht. Das Buch spielt in einem vergrünten Bionade-Ghetto Berlins: Beide Eltern der Familie Grünberg arbeiten am – wie es im Roman heißt – Empörungs-Everest der Deutschen. Mutter Becki leitete eine Stiftung, Vater Harro, genannt „Grünchen“, hat eine Agentur für ethische Werbung, der Sohn kompensiert sein Versagen an der Uni bei der Antifa. Doch dann wird ihre buntfröhliche Welt erschüttert, als die Tochter in der Kölner Silvesternacht 2015 von „Südländern“ – sagt man nicht so? – vergewaltigt wird.

Allerdings wirkt Ihr Buch ziemlich vordergründig.

Kunkel: Das sehe ich anders. Es ist ein stilles, nachdenkliches Buch, das versucht, die gegenwärtige Spaltung der Deutschen in zwei unversöhnliche Lager mit psychologischem Einfühlungsvermögen zu ergründen. Daß das Personal ein durchweg politisiertes Leben führt, läßt sich dabei nicht ausblenden. 

Sprache und Schilderung sind laut, ja schrill, das Buch wirkt eher wie eine Karikatur denn wie ein Roman.

Kunkel: Sie verwechseln schwarzen mit spitzer Feder vorgetragenen Humor mit Witzelei. Beispiel: „In seinem Schädel ging es ja von Berufswegen zu wie in einem Rudel wildgewordener Zeitungsverkäufer der Obdachlosengazetten.“ Ist das Karikatur oder nicht doch Wirklichkeit? Zudem geht es mir darum, den Leser durch meine Sprache in einen Rausch zu versetzen – die tieferen Erfahrungen des Menschen liegen ja jenseits des Kognitiven. Und nicht zuletzt geht es im Buch um den Einblick in die Psyche von Menschen, die man vor hundert Jahren für verrückt gehalten hätte. Ich behaupte, Anfangs des 20. Jahrhunderts wären die meisten dieser vor Hypersensibilität strotzenden Dauerbesorgten in der Klapse gelandet. Übrigens empfinden nicht alle Leser meine Romane als schrill. Menschen, die gewohnt sind, in Bildern zu denken, – Filmemacher, bildende Künstler, Schauspieler – tun das in der Regel nicht. Ich weiß nicht, ob Sie, Herr Schwarz, die Bilder Max Beckmanns kennen, die wurden damals von den Nazis auch als „grell“ abgetan. Für mich sind sie höchstens kontrastreich. Und schließlich war das Schreiben des „Garten der Eloi“ für mich eine Selbsttherapie: Ich wollte erkunden, was mit mir nicht stimmt. 

Inwiefern?

Kunkel: Warum stört mich, daß immer mehr Themen tabuisiert werden? Warum leide ich so an diesem „Buntland“, das aus Deutschland geworden ist? Der „Garten der Eloi“ ist auch ein Versuch, meine Lebenssituation zu bewältigen. Denn ich fühle mich – nicht erst seit den jüngsten Vernichtungsaktionen durch Hugendubel und LovelyBooks – wie der lebende Tote des deutschen Literaturbetriebs. Ich glaube, ich könnte denen keinen größeren Gefallen tun, als mich aus der Welt zu schaffen.

Das heißt, Ihre Hauptfigur, das sind Sie? 

Kunkel: Das verlangt die Ehrlichkeit: Grünchen ist wie ich ziemlich introvertiert, und ja auch ein „Sensibelchen“ – wie meine Wenigkeit kommt er an einen Punkt, an dem er die neue, bunte Welt hinterfragt: Er muß erleben, daß die Ereignisse der Kölner Silvesternacht nicht nur von den Medien verschwiegen oder heruntergespielt werden, sondern daß sich diese Mauer des Beschweigens in der eigenen Familie fortsetzt. Denn zu seinem Entsetzen sind sich seine Frau und Tochter einig, daß es mehr Nachteile bringe, die Vergewaltigung anzuzeigen, schließlich wollen sie keine Fremdenfeindlichkeit schüren und sich so angreifbar machen. Und auch der Bekanntenkreis stimmt dem zu. Grünchen ist der einzige, der die Realität ansprechen will – verliert aber gerade dadurch den Kontakt zur Realität, in der die anderen leben. Wo aber eine Lüge zur Realität erklärt wurde, wird ein Beharren auf der alten Realität zur „Einbildung“ und letztlich zur „Verschwörungstheorie“. 

Dagegen rebelliert Ihr Protagonist auf subtile Weise – wodurch jedoch das Verhängnis seinen Lauf nimmt ...

Kunkel: Es ist fast die klassische Geschichte: Trügerische Glückseligkeit im Garten Eden – bis ein Biß in den Apfel vom Baum der Erkenntnis alles verändert. Unser Held erkennt, was tatsächlich läuft und weigert sich, eine Lüge zu leben. Er zeigt Rückgrat und kämpft für die Wahrheit. Wir erleben einen grotesken Akt der Selbstbehauptung, der im heutigen Deutschland mehr als drastische Folgen nach sich ziehen muß. Der Mann gerät in die Mühle der Politisch-Korrekten, wird zur Unperson oder „Lischenzy“ (Entrechteten), wie es bei Stalin einst hieß. Mehr möchte ich nicht verraten, um den Lesern nicht die Spannung zu nehmen. 

Sie sagen also, Ihr Buch ist nicht schwarz-weiß, wie Ihre Kritiker Ihnen vorwerfen? 

Kunkel: Genau. Im Laufe der Jahre haben mir meine Leser immer wieder eine Grundehrlichkeit hoch angerechnet, die meine Bücher erfülle – das hat mich sehr gefreut. So gibt es etwa in keinem meiner Romane strahlende Helden, weil es die auch in Wirklichkeit nicht gibt. 

„Im Garten der Eloi“ warnt vor der Selbstgleichschaltung der Gesellschaft. Läßt sich diese noch verhindern? 

Kunkel: Natürlich will ich glauben, daß alles gut endet. Doch seien wir ehrlich, da müßte ein Wunder geschehen. Die meisten unserer Mitmenschen wähnen sich heute in einer Art „Garten der Eloi“, in einer Welt, in der das Geld auf den Bäumen wächst und niemand sich zu fürchten braucht, solange er die ihn umgebende Falschbehauptung über die Wirklichkeit nicht hinterfragt. 

Woher kommt diese Entwicklung, die Sie im Buch spiegeln, daß wir bereit sind, Stück um Stück die Realität durch Ideologie zu ersetzen? 

Kunkel: Es mag nicht jedem einleuchten, aber ohne die jahrzehntelange Umerziehung der Deutschen zu einem Volk von Anpassern wäre dergleichen nicht möglich. Wobei ich Multikulti auch mal in Schutz nehmen muß: Die von Herrn Tellkamp neulich in einem Interview beklagten „Frankfurter Verhältnisse“ waren anfangs, etwa zur Zeit meiner Jugend, nicht schlecht, sondern ein natürlicher, zwanglos ablaufender kultureller Austausch, der sich vom heutigen Staatsmultikulturalismus erheblich unterschied. Parallelgesellschaften, in der sich Einwanderer abschotteten, gab es damals in Frankfurt am Main, wo ich ja aufgewachsen bin, nicht. Danach aber lief vieles schief, wie uns die Kölner Silvesternacht 2015/16 zeigte. Im Garten der deutschen Eloi befinden wir uns jetzt in der Phase von Ernst Jüngers berühmter „Schere“, die „am schärfsten schneidet, wenn sie sich zu schließen beginnt“. Doch die Masse der Realitätsverweigerer möchte diese Verwerfungen einfach nicht sehen – weil sie weh tun, schmerzen, bluten ... Und ich kann momentan nicht erkennen, was eine Trendwende auslösen könnte, solange die Deutschen ihr Medienproblem nicht endlich in den Griff bekommen.






Thor Kunkel, dem „kreativen Erzähler mit unglaublicher Sprachkraft“ (Spiegel-Autorin Melanie Amann) gelang mit seinem preisgekrönten Debütroman „Das Schwarzlicht-Terrarium“ (2000) der Durchbruch. Die FAS wählte es unter die „25 wirkungsvollsten deutschen Bücher der letzten zwanzig Jahre“. Jahrelang begeisterte Kunkel die Feuilletons von FAZ bis taz. Einige Bücher wurden für Bühne und Hörfunk bearbeitet, 2018 verfilmte Oskar Roehler „Subs“ (2011) unter dem Titel „Herrliche Zeiten“. Geboren 1963 in Frankfurt, studierte Kunkel Kunst in San Francisco, London, Amsterdam, war für internationale Werbeagenturen tätig, für die er preisgekrönte Kampagnen entwarf. Jüngst erschien sein neuer Roman „Im Garten der Eloi. Geschichte einer hypersensiblen Familie“, im Juli folgt bereits „Welt unter“.

Foto: Literarischer Dissident Kunkel: „Ich beobachte mit Grausen, was mit Tellkamp passiert. Denn das ist erst der Anfang. 2004 ging es mir genau wie ihm. Doch das wahre Canceln beginnt erst, wenn sie dich, wie mich, gezielt totschweigen“