© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Wenn die bunten Fahnen wehen
Christian Vollradt

Am 23. Juli, einem Samstag, ist es soweit: „Ja, die Flagge kommt auf den Turm“, kündigte Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) voller Vorfreude an. Gemeint ist eine Regenbogen-Flagge, und die soll an jenem besagten Tag im Juli anläßlich des sogenannten Christopher-Street-Day in Berlin auf einem der Reichstagstürme wehen. Es sei überfällig, weithin sichtbar das Signal zu setzen, „daß unser Land ein Land der Freiheit, Vielfalt und Demokratie ist, das sexuelle und geschlechtliche Vielfalt schützt und sich gegen jede Form der Diskriminierung stellt“, meinte Göring-Eckardt. 

Einstimmig sei der entsprechende Beschluß im Präsidium des Bundestags gefallen, heißt es. Das fiel sicherlich um so leichter, da dieses Präsidium seit nun mehr als viereinhalb Jahren unvollständig ist und nicht dem entspricht, was die Geschäftsordnung des Parlaments vorsieht: daß jede Fraktion mit einem Vizepräsidenten vertreten ist. Bisher fielen insgesamt acht Kandidaten der AfD durch …

Der Vorschlag mit der Regenbogenflagge soll von Göring-Eckardts Mit-Vizepräsidenten Wolfgang Kubicki (FDP) eingebracht worden sein. Auch am Friedrich-Ebert-Platz, vor dem Ostportal des Reichstags, soll demnach das Tuch mit den sechs bunten Streifen bald wehen. Auf dem Dach des Reichstags ist es die erste Änderung seit elf Jahren. Bis Mai 2011 wehte auf jedem der vier Türme je eine Bundesflagge im Format fünf Meter mal sieben Meter. Tag und Nacht, denn weil sie mit Scheinwerfern angestrahlt werden, entfällt die Regelung, wonach Flaggen nur bei Tageslicht gehißt werden dürfen und bei Dunkelheit eingeholt werden müssen. Eigenmächtig entschied der damalige Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) dann, auf dem südöstlichen Turm dauerhaft das blaue Tuch mit den zwölf goldenen Sternen als Bekenntnis zur Europäischen Union zu hissen.

Erst kürzlich hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) das Hissen der Regenbogenflagge zu bestimmten Anlässen an Dienstgebäuden des Bundes genehmigt. Das war unter der vorherigen Bundesregierung noch am Widerstand aus der Union gescheitert. Und nach wie vor gilt laut Innenministerium: „Die Bundesflagge hat Verfassungsrang, ist wichtigstes Staatssymbol und Element gesamtstaatlicher Repräsentation.“ Sie diene  „insbesondere der Identifikation der Bürger mit dem Staat“ und um ihre „Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten, ist die Wahrung staatlicher Neutralität zwingend erforderlich“. Deswegen ist es grundsätzlich nicht genehmigt, Flaggen „ohne gesamtstaatlichen beziehungsweise bundesstaatlichen Bezug“ an Dienstgebäuden des Bundes zu hissen. 

Daß nun eine Ausnahme gemacht werden darf, begründete Faeser mit dem Koalitionsvertrag. Dort habe man sich unter anderem zum Ziel gesetzt, „Queerfeindlichkeit entgegenzuwirken, die Akzeptanz und den Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu stärken“. Und die Regenbogenflagge sei ein „weltweit bekanntes Symbol für Solidarität mit den durch Diskriminierung betroffenen Menschen“.