© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Die Königin kehrt aus dem Exil zurück
Artillerie: Die Waffengattung gewinnt angesichts des Ukraine-Kriegs an Aktualität / Bundeswehr hat großen Nachholbedarf
Ferdinand Vogel / Christian Vollradt

Wie schwere Kampfpanzer galt auch die Artillerie fast schon als Relikt einer längst vergangenen Ära. Alteisen aus dem Kalten Krieg ... Der war ja nun ein für allemal vorbei, die Bundeswehr wurde zur „Armee im Einsatz“, weltweit unterwegs in Sachen Friedenssicherung. Die Schauplätze im internationalen Engagement hießen ab 1999 und 2002 Kosovo und Afghanistan. 

Dort brauchte man für Kampfeinsätze vor allem leichte Infanterie, spezialisierte, luftmobile Einsatzkräfte. Die Zukunft, so das allgemeine Credo, das waren asymmetrische Konflikte gegen militärisch unterlegene, aber eher im Untergrund agierende Gegner. Dafür brauche es andere Waffensysteme, Fähigkeiten und Taktiken als für die kriegerische Auseinandersetzung mit einem technisch ebenbürtigen Gegner beziehungsweise für dessen Abschreckung. „Die Sicherheitslage hat sich entscheidend verändert. Deutschland wird absehbar nicht mehr durch konventionelle Streitkräfte bedroht“, konstatierte der seinerzeitige Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) 2004 im Bundestag. Dementsprechend wurde die Bundeswehr personell und materiell umgebaut – sprich: zurechtgestutzt und kleingespart. 

Bereits ab 1996 wurden viele Waffen verschenkt, verkauft und verschrottet. Der Rückgang der Bestände deutscher Waffensysteme belief sich auf einen Umfang vor 53 bis zu 93 Prozent. Besonders betroffen davon war neben Kampfpanzern, gepanzerten Kampffahrzeugen auch die großkalibrige Artillerie, einst als „Königin des Schlachtfelds“ bewundert wie gefürchtet. 

Von den vormals knapp 60 Artilleriebataillonen, die die Bundeswehr zu Höchstzeiten während der Blockkonfrontation aufbringen konnte, sind heute nur noch vier übrig. Die Implikationen dieser dramatischen Entwicklung sind so simpel wie erschreckend. Trotz hochmoderner Systeme wie der Panzerhaubitze 2000, von denen jetzt bis zu sieben Stück an die Ukraine geliefert werden sollen, attestiert sich das Heer in einer offiziellen Broschüre „Nachholbedarf“ bei der Fähigkeit zu „präzisem Steilfeuer mit großer Reichweite.“

Aus vier Bataillonen sollten drei Regimenter werden

Mit dem politischen Motto „Breite vor Tiefe“ sorgten die bisherigen Verteidigungsminister und Regierungen dafür, daß die Bundeswehr zwar auf dem Papier ein größtmögliches Fähigkeitsprofil aufweisen konnte, jedoch die nötige „Durchhaltetiefe“ vermissen ließ, wie die einstige Ressortchefin Ursula von der Leyen (CDU) einmal korrekt anmerkte. Getan hat sich seither jedoch nichts. Zumindest nichts zum Positiven.

Für jedermann sichtbar räumt der Krieg in der Ukraine mit den vermeintlichen Wahrheiten der vergangenen zwei Jahrzehnte auf und macht deutlich, daß sich die großen, konventionellen Kriege zwischen zwei ähnlich gut gerüsteten Mächten in etwa so abspielen wie schon die Kriege in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Infanterie, Panzerkompanien und Artilleriebataillone stehen sich in einem Schießkrieg gegenüber. Es ist die gefürchtete Artillerie der Russen, die ukrainische Städte wie Mariupol in Schutt und Asche legt und Stellungen der Ukrainer sturmreif schießt. Gleichzeitig zeigen die Ukrainer, daß sie mit dem perfekt abgestimmten Einsatz von Beobachtern, bei gleichzeitiger Nutzung von Drohnen und dezentralisiertem Internet mit ihren Artilleriebatterien eine Präzision erreichen, die Militärs weltweit staunen läßt. Den Russen fügen die Ukrainer mit dem perfektionierten Einsatz ihrer eigenen Artillerie, aber auch mit den neu zugeführten westlichen Waffensystemen erhebliche Verluste zu. 

Im Donbas tobt derzeit eine gewaltige Auseinandersetzung, wie man sie zuletzt nur im Zweiten Weltkrieg gesehen hat. Artilleriebatterien bekämpfen einander mit Konterbatterie-Feuer, zerschlagen ganze Bataillone bei der Überquerung von Gewässern und sind mittlerweile dank lasergesteuerter Munition so präzise, daß oftmals bereits der erste Schuß zur Zerstörung des Ziels führt. 

Mit der eigens von der Ukraine entwickelten Software für die artilleristische Feuerleitung können die von den Artilleriebeobachtern durchgegebenen Zielkoordinaten sofort von den Geschützbatterien aufgenommen und in zielgenaues Feuer umgesetzt werden. Damit verbessern die Ukrainer ihre sogenannte „Time on Target“ (zu deutsch: Zeitpunkt im Ziel) erheblich und ermöglichen so ein präzises und tödliches Feuer auf ein Ziel innerhalb weniger Minuten. Ein beachtlicher Vorteil im Gefecht. 

Diese neue Realität des Krieges einige tausend Kilometer östlich zeigt überdeutlich, daß ein konventioneller Schießkrieg, wahlweise mit Bewegung, aber auch im festgefahrenen Stellungskrieg, wieder eine denkbare Option in Europa geworden ist. Daß dafür eben nicht nur hochmobile Spezialkräfte im offenen Geländewagen, unbewaffnete Aufklärungsdrohnen und ein paar Feldjäger nötig sind, dürfte zumindest bei den Militärs angekommen und längst verstanden worden sein. 

Nur in der Regierung läßt die Erkenntnis und der Wille zur echten Trendwende – Sondervermögen hin oder her – auf sich warten. Um im Spannungsfall mehr als nur einen Landkreis zu verteidigen, bräuchte es demnach auch wieder mehr Artillerie. 

Dabei hatte man schon vor der Eskalation des Ukraine-Konflikts die „Ertüchtigung der Artillerie zur Landes- und Bündnisverteidigung bis 2032“ verkündet. Aus den derzeit vorhandenen vier Bataillonen sollte die Truppe mit dem feuerroten Barett auf drei Artillerieregimenter sowie ein zusätzliches Artilleriebataillon „aufwachsen“. So sollte jede der geplanten künftigen drei Heeresdivisionen ein eigenes Artillerieregiment erhalten. Ursprünglich hatte man auch geplant, die Erneuerung der Artillerie gemeinsam mit der französischen Armee in Angriff zu nehmen. Doch das 2012 gestartete Projekt soll seit 2018 mehr oder weniger auf Eis liegen. 

Zudem fehlt der Bundeswehr für den dringend benötigten Aufwuchs ein nicht unerheblicher Faktor: Soldaten. Derzeit dienen in der Truppe etwas mehr als 180.000 Männer und Frauen. Damit fehlen noch immer rund 20.000 Uniformierte bis zur geplanten Sollstärke.

 Wie hatte Generalmajor Christian Trull in seiner legndär gewordenen Rede anläßlich der Übergabe der 14. Panzergrenadierdivision 2005 bemerkt? Es sei ein leichtes, Einheiten der Bundeswehr aus politischen Gründen mit einem „Federstrich“ zusammenzustreichen. Aber es werde Jahre und Jahrzehnte dauern, um sie wiederaufzustellen.

 



„Zu – gleich!“ 

Gab es schon in der Antike Katapulte, mit denen man einen belagerten Gegner in die Knie zwingen konnte, kann man von einer eigentlichen Artillerie zum Beschuß mittels Steilfeuer über größere Distanzen erst seit Erfindung des Schießpulvers sprechen. Der Begriff leitet sich vom lateinischen „ars“ (Kunst) ab, im Sinne von Schießkunst. Heute unterscheidet man zwischen Rohrartillerie (etwa der Panzerhaubitze 2000 zur Bekämpfung von Großzielen, die sich nicht bewegen) und Raketenartillerie (etwa dem Mittleren Artillerieraketensystem MARS II zur Bekämpfung von Flächen- und Punktzielen). Die Artillerietruppe der Bundeswehr (Schlachtruf „Zu – gleich!“), zu der auch Radarortungs- und andere Aufklärungssysteme gehören, besteht derzeit aus vier Bataillonen und der Artillerieschule in Idar-Oberstein. Die Personalstärke beträgt rund 5.000 Soldaten mit dem General der Artillerie an der Spitze. Ein Bataillon besteht aus drei bis vier Batterien; eine Batterie wiederum aus zwei Zügen mit jeweils etwa vier Geschützen. Offiziell verfügt die Bundeswehr derzeit über 120 Exemplare der Panzerhaubitze 2000, von denen etwa 40 einsatzbereit sein sollen, und rund 40 MARS-Raketenwerfern. Bis 2031 sollen etwa 120 radgestützte Geschütze (LKW und Radpanzer „Boxer“) beschafft werden. (vo)