© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Die drei Buchstaben der Macht
ESG und die „Nachhaltigkeits“-Ziele der Wirtschaftselite unter Beschuß: Angriffslustige, erfolgreiche Unternehmer machen Front gegen den „woken“ Kapitalismus
Björn Harms

Auch in diesem Jahr blieb beim Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos alles beim alten. Das Thema Nachhaltigkeit bestimmt das Geschehen, verpackt in eine mittlerweile altbekannte und wohlklingende Forderung: Unternehmen sollen der Gesellschaft als Ganzes dienen und nicht nur ausschließlich auf die Gewinne schielen, an denen sich die Eigentümer bereichern. Auf verschiedensten Panels wurde die nachhaltige Entwicklung vieler Konzerne angehimmelt, zur Senkung der Kohlenstoffemissionen aufgefordert oder von jungen Klimaaktivisten wie der Kenianerin Elizabeth Watuthi vor dem drohenden Klimakollaps gewarnt. Ganze 90 der 270 Diskussionsrunden drehten sich um dieses eine Thema.

Der Gründer des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, gilt als der Kopf jenes ganzheitlichen Ansatzes, der auch unter dem Stichwort „Stakeholder-Kapitalismus“ bekannt ist. Gemeinsam mit anderen Finanzgrößen wie Blackrock-CEO Larry Fink oder JP Morgan-Frontmann Jamie Dimon ist es ihm in den vergangenen Jahren gelungen, drei Buchstaben zu institutionalisieren, die die Unternehmenswelt auf den Kopf gestellt haben. „ESG“ lautet die englische Abkürzung für „Environmental“ (Umwelt), „Social“ (Soziales) und „Governance“ (Unternehmensführung). Unter diesem Label bietet die Finanzindustrie mittlerweile zahlreiche Geldanlagen an, mit denen Nachhaltigkeit demonstriert werden soll. Viele Firmen lechzen nach dem begehrten Stempel. Eine niedrige ESG-Bewertung kann verheerend sein, da sie es einem Unternehmen praktisch unmöglich macht, frisches Geld am Kapitalmarkt zu beschaffen. Auch für den einzelnen können die Konsequenzen spürbar sein: Mastercard will beispielsweise künftig alle Mitarbeiterboni an ESG-Ziele koppeln. Klimaneutralität, Geschlechtergerechtigkeit oder ethnische Diversität – das sind die Dinge, die heute in der Geschäftswelt von Wert sind.

Doch immer wieder wird bei der Vergabe auch der Vorwurf der politischen Willkür laut. Wenige Wochen nach der angekündigten Übernahme von Twitter durch Elon Musk warf etwa der Aktienindex „S&P 500 ESG“ für angeblich nachhaltige Investments den Elektroautohersteller Tesla aus seinem Ranking – obwohl sich das Unternehmen selbst als klimafreundlich versteht. Der Ölkonzern Exxon wird hingegen weiterhin gelistet. „Auch wenn Tesla seinen Teil dazu beiträgt, benzinbetriebene Autos von der Straße zu nehmen, bleibt das Unternehmen hinter seinen Konkurrenten zurück, wenn es durch eine breitere ESG-Linse betrachtet wird“, begründete die Leiterin des Indizes, Margaret Dorn, in einem Blogbeitrag die Entscheidung. Der Tesla-Chef zeigte sich dünnhäutig. Musk bezeichnete die Anlagekategorie als bloßen „Schwindel“. Die Punktezahlen solcher Indizes hingen davon ab, wie konform ein Unternehmen mit der „linken Agenda“ sei, höhnte er in einem auf Twitter geteilten Meme.

Investoren, die der Links-Agenda nicht folgen wollen, verbünden sich

Musk ist nicht der erste, der sich mächtige Feinde geschaffen hat. Kürzlich leistete sich der Top-Banker Stuart Kirk einen unverzeihlichen Fauxpas: Auf einer Konferenz der Financial Times in London kritisierte der Leiter der Abteilung für verantwortungsbewußtes Investieren beim Vermögensverwalter HSBC Asset Management mit scharfen Worten die grünen Untergangspropheten: „Es gibt immer einen Verrückten, der mir vom Ende der Welt erzählt“, spottete er zu Beginn seiner Rede. Anschließend versuchte er die These zu widerlegen, wonach Investoren einen umweltbewußteren Kapitalismus fördern sollten, indem sie Klimarisiken in ihre Berechnungen mit einbeziehen. Der Klimawandel sei „kein finanzielles Risiko, über das wir uns Sorgen machen müssen“, erklärte Kirk. Kurze Zeit später war er seinen Job los. Kritik an der fast vier Billionen schweren ESG-Fondsindustrie kommt nicht gut an. Und doch ist sie da, und doch wird sie geäußert: Sogar Blackrocks ehemaliger Chef für nachhaltige Investments, Tariq Fancy, bezeichnete das ESG-Label kürzlich als „gefährliches Placebo“. Desiree Fixler, ehemalige Nachhaltigkeitschefin der Deutschen Bank-Tochter DWS, bezeichnete die drei Buchstaben ESG als bedeutungslos. Auch sie mußte bereits ihren Posten räumen. Seitdem streitet die 49jährige mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber, dem sie vorwirft, sich nach außen hin grüner gegeben zu haben, als es die Anlagepolitik tatsächlich abbildete („Greenwashing“). Ironischerweise habe sogar die Wirecard-Aktie bis kurz vor ihrem Zusammenbruch in einem ESG-Fonds der DWS gesteckt (siehe Seite 10). Zudem werden mittlerweile auf ihren Jahresversammlungen die Vorstandsvorsitzenden von Konzernen wie Goldman Sachs oder Meta von konservativen Aktionärsgruppen massiv unter Druck gesetzt.

Der ehemalige US-Vizepräsident Mike Pence, Donald Trumps Stellvertreter von 2017 bis 2021, sprach nun in einem Gastbeitrag im Wall Street Journal aus, was viele republikanische Wähler in den USA wohl genauso denken: Die „progressive Linke“ nutze die drei Buchstaben, „um Ziele durchzusetzen, die sie an den Wahlurnen niemals erreichen könnte“. Das unternehmerische Amerika sei mittlerweile komplett in der Hand der Linken. Es gebe jedoch nicht plötzlich so viel mehr linke Aktionäre oder eine größere Nachfrage der Verbraucher. Vielmehr sei der Wandel „vollständig von einer Handvoll sehr großer und mächtiger Finanziers der Wall Street erzeugt worden, die sich für linke ESG-Ziele einsetzen“, schrieb Pence. Der nächste Präsident solle dem einen Riegel vorschieben.

Die Angst in Davos angesichts solcher Aussagen ist groß. Auch angriffslustige Personen wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis, der in seinem Bundesstaat den Kampf gegen „woke“ Großkonzerne bereits eingeleitet hat, bedrohen die Ziele der Wirtschaftselite. Als Disney sich lautstark in staatliche Angelegenheiten einmischte, leitete DeSan­tis bekanntlich sofort Gegenmaßnahmen ein (JF 19/22). Dazu verbünden sich nun gehäuft unwillige Investoren, die der linksgrünen Agenda nicht folgen wollen. Der Unternehmer Vivek Ramaswamy ist einer von ihnen. Im Mai sammelte der 36jährige mehr als 20 Millionen Dollar von Pay­pal-Gründer Peter Thiel und anderen Konservativen ein, um eine Anti-ESG-Investmentgruppe ins Leben zu rufen, die im Herbst an den Start gehen soll. Sieben Jahre lang arbeitete er als CEO eines großen Pharmaunternehmens, im vergangenen Jahr trat er zurück und machte mit dem Bestseller „Woke Inc. – Der Betrug der amerikanischen Unternehmen in Sachen sozialer Gerechtigkeit“ auf sich aufmerksam. Darin versuchte der Harvard-Absolvent „die Fusion zwischen der neoprogressiven ‘woken’ Bewegung und dem Großkapital“ sowohl in den Vereinigten Staaten als auch weltweit zu erklären.

Durch geheuchelte Moral die eigene Existenz rechtfertigen 

Ramaswamy spricht von einer „Perversion“ der gesellschaftlichen Verhältnisse: Die Unternehmen würden nicht mehr nur auf dem Markt der Produkte agieren, sondern auch auf den Markt der Ideen eingreifen. In einer Demokratie aber müsse „die Stimme jedes einzelnen gleichermaßen zählen“. Grundlegende gesellschaftliche Fragen sollten in aller Öffentlichkeit und durch freie Meinungsäußerung nach dem Motto „Eine Person – eine Stimme“ diskutiert werden und in das Prinzip „Eine Person – eine Wählerstimme“ münden. Die Methode werde jedoch durch die „woken“ Konzerne in ein System „Ein Dollar – eine Stimme“ umgewandelt, da „eine kleine Gruppe elitärer Führungskräfte und Investoren“ hinter verschlossenen Türen über die richtigen Antworten auf gesellschaftliche Fragen entscheiden dürfe. Für Ramaswamy findet der „entscheidende kulturelle und politische Kampf unserer Zeit“ deshalb „nicht zwischen links und rechts statt“, sondern „zwischen der Managerklasse und dem modernen Staatsbürger“.

Woher aber stammt nun diese Entwicklung? Ramaswamy hat eine Erklärung parat: Nach der Weltfinanzkrise von 2008 hätten sich weltweit die Führungskräfte aus Wirtschaft und Hochfinanz eine neue Rolle suchen müssen, meint der indischstämmige Autor. Schließlich habe jeder sie nach den Spekulationsorgien und anschließenden Bankenrettungen auf Steuerzahlerkosten als die ultimativen Bösewichte wahrgenommen. Ihr Verlangen, ihren Ruf wiederherzustellen, sei mit dem Wunsch jüngerer Arbeitnehmer zusammengefallen, tatsächlich für mehr Nachhaltigkeit einzutreten. Man sprang auf den Zug der neuen Linken auf, die nicht mehr wie die alte Linke die wirtschaftlichen Verhältnisse ins Zentrum stellte, sondern den Kampf gegen Rassismus und andere Diskriminierungen als dringlichere Probleme darstellte. Die „gegenseitige Prostitution“ habe schließlich zur Geburt eines „‘woken’ industriellen Komplexes“ geführt.

Und genau diese Denkweise spiegele sich heute in der ESG-Bewegung wider, an deren Spitze sich die billionenschweren Vermögensverwalter wie Blackrock oder Vanguard gestellt hätten, um durch geheuchelte Moral „ihre eigene Existenz und die von ihnen erhobenen Gebühren zu rechtfertigen“. Ramaswamy bringt das auf die Formel: „Die Leute, die das meiste Kapital kontrollieren, dürfen bestimmen, wie sich Unternehmen in sogenannten sozialen und ökologischen Fragen verhalten sollen.“

Bereits im August 2019 war es zu einem Treffen der Führungsspitzen beinahe aller wichtigen US-Konzerne gekommen – von Tech-Unternehmen über die Banken bis hin zu Autoherstellern. 181 CEOs verpflichteten sich in einer öffentlichen Erklärung dem „Stakeholder-Kapitalismus“. Künftig sollten ihre Unternehmen „zum Nutzen aller Interessengruppen – Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten, Gemeinden und Aktionäre“ – geführt werden. Der Autor Stephen R. Soukup bringt die Gedankenwelt dahinter wie folgt auf den Punkt: „Warum sollten wir angesichts der Macht, die uns die Kontrolle über das Kapital verleiht, nicht darauf bestehen, daß unsere Werte bei der Anlage dieses Kapitals zum Tragen kommen? Warum sollten wir nicht darauf bestehen, daß unsere Werte, die in der Wahlkabine unpopulär sind, der Standard für die Teilnahme am System sind?“

Ob Vivek Ramaswamys Anti-ESG-Kampagne in Zukunft Früchte tragen wird, bleibt abzuwarten. Angesichts der erheblichen finanziellen Ungleichheit im Vergleich mit den großen Vermögensverwaltern ist seine Mission ohnehin schwierig genug. Die Fronten jedenfalls sind klar abgesteckt.

Foto: „Environmental“ (Umwelt), „Social“ (Soziales) und „Governance“ (Unternehmensführung) als ein Aspekt des vermeintlich gemeinwohlorientierten Stakeholder-Kapitalismus, wie Klaus Schwab ihn anstrebt: Eine niedrige ESG-Bewertung kann am Markt verheerend sein. Ist das Etikett ein „gefährliches Placebo“, wie ein führender Großkapitalist kürzlich warnte?