© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Die EU hat ihr sechstes Sanktionspaket gegen Rußland beschlossen
Die falschen Verlierer
Reiner Osbild

Die EU will Öl aus Rußland boykottieren, um die Finanzierung des Angriffskriegs in der Ukraine zu erschweren. Das scheint auf den ersten Blick wirksam: Rußland exportierte voriges Jahr 230 Millionen Tonnen Rohöl im Wert von 110 Milliarden Dollar, davon knapp die Hälfte nach Europa. Wenn der Boykott 2023 vollständig umgesetzt ist, könnten sich die EU-Ölimporte aus dem Osten um neun Zehntel verringert haben. Doch Sanktionen müssen dem Gegner weh tun, nicht dem Sanktionsgeber. Ein Bußgeld trifft den Temposünder, nicht das Straßenverkehrsamt. Die Sanktionen führen zwar zu einem Einbruch der russischen Wirtschaft um 8,5 Prozent, doch treiben sie im Westen die Inflation auf Rekordmarken.

Deutschland importiert inzwischen nur noch neun bis zehn Millionen Tonnen, was etwa vier Prozent der russischen Vorkriegsexporte und zwölf Prozent der aktuellen deutschen Ölimporte ausmacht. Diese kommen größtenteils aus der Druschba-Pipeline, die die Raffinerien Schwedt und Leuna versorgt. Im Gegensatz zu slowakischen, tschechischen und slowakischen Raffinerien sollen diese am Boykott teilnehmen und auf russisches Öl verzichten. Dies gefährdet allein in Schwedt 1.200 Arbeitsplätze (JF 19/22) und auch nachgelagerte Bereiche, wenn kein Ersatz beschafft werden kann. Die Schädigung für Rußland dürfte sich in Grenzen halten. Nicht nur, daß der Boykott wohl erst 2023 die volle Mengenwirkung entfaltet. Rußland hat bereits jetzt Ersatz gefunden und die Exporte an Öl und Gas nach China um etwa die Hälfte steigern können.

Zudem ist der Ölpreis in Erwartung zukünftiger Knappheiten weiter angestiegen. Der Leistungsbilanzüberschuß Rußlands hat sich in den ersten vier Monaten 2022 auf 96 Milliarden Dollar verdreifacht, worin sich jedoch auch geringere Importe widerspiegeln. Um im Sanktions-Bingo nicht zu verlieren, besteht ein beträchtlicher Anreiz, Schlupflöcher zu suchen – auch in Deutschland. Denn es verdichten sich die Anzeichen, daß mittels komplizierter Zahlungstransaktionen und Überweisungstricks das russische Gas, wie von Moskau gefordert, in Rubel bezahlt wird, und nur pro forma in Euro.

Des weiteren waren schon die bisherigen EU-Sanktionen so gestrickt, daß sie nur scheinbar streng waren. Zumindest bis März waren Auszahlungen europäischer Banken an russische Oligarchen möglich; nur Einzahlungen wurden abgewiesen. Der Ausschluß russischer Banken vom Zahlungssystem Swift betraf nur einen Bruchteil der Institute und betraf den eigentlichen Zahlungsverkehr nur am Rande. Lediglich 60 Prozent der russischen Euro- und Dollar-Zentralbankguthaben wurden eingefroren, wodurch Wladimir Putin über die restlichen 40 Prozent – 250 Milliarden Dollar – verfügen konnte. Die in Rußland ankommenden Euros können zur Begleichung von Schulden verwendet werden, womit das Land seine Kreditwürdigkeit am internationalen Kapitalmarkt behauptet, sollten die Zahlungen technisch möglich sein.

Warum die Devisenguthaben des Kreml überhaupt so wichtig sind angesichts des Lieferboykotts bei Militär- oder Dual-Use-Gütern, ist eigentlich erklärungsbedürftig. Vielleicht wird auch dort geschummelt. Wenn bei der Umsetzung des Öl-Embargos ähnlich getrickst werden sollte wie bisher, dann dürfte der Verlierer einzig und allein das Land mit der blau-gelben Flagge sein.






Prof. Dr. Reiner Osbild ist Ökonom und Ordinarius an der Hochschule Emden/Leer.