© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Roswell war von dieser Welt
Vermeintlicher Ufo-Absturz im US-Bundesstaat New Mexico vor 75 Jahren: Trotz der Fakten nährt der Mythos noch immer die Phantasie
Thomas Schäfer

Der „Ufo-Absturz von Roswell“ ist mittlerweile in die Populärkultur eingegangen: In zwei Dutzend Büchern und rund 20 Kino- oder Fernsehfilmen wird in immer neuen Variationen davon phantasiert, wie vor 75 Jahren Trümmer eines außerirdischen Raumschiffes über New Mexico niedergingen und die US-Regierung das Ganze vertuschte, wozu auch das Verschwindenlassen der toten oder überlebenden Insassen der „Fliegenden Untertasse“ gehörte. Die Geburtsstunde dieses Mythos schlug am 14. Juni 1947.

An jenem Samstag entdeckte der Landwirt William „Mac“ Brazel bei der Inspektion der Schafsherden auf seiner Foster Ranch rund 105 Kilometer nordwestlich der Stadt Roswell zahlreiche Trümmerteile aus grauem Gummi, Aluminiumfolie und Holz, wobei er dem Fund zunächst keine sonderliche Bedeutung beimaß. Das änderte sich erst am 5. Juli, als Brazel, der weder Radio hörte noch Zeitung las, während eines Besuchs in der kleinen Ortschaft Corona von den reißerischen Medienberichten der letzten Tage über „Unbekannte Flugobjekte“ erfuhr. Auslöser derselben war die Aussage des Piloten Kenneth Arnold vom 24. Juni 1947, er habe unweit des Mount Rainier im US-Bundesstaat Washington neun ungewöhnliche Scheiben am Himmel gesichtet, welche „Fliegenden Untertassen“ glichen. Hierdurch alarmiert, sammelte der Farmer am 6. Juli einige der Trümmerstücke ein und brachte diese am Folgetag ins Büro von George Wilcox, dem Sheriff von Roswell. Der wiederum informierte den Stützpunkt der US-Luftwaffe auf dem Roswell Army Air Field (RAAF), wo die legendäre 509th Composite Group stationiert war, deren Maschinen im August 1945 die beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten.

Der Kommandeur des RAAF, Colonel William Blanchard, entsandte daraufhin Major Jesse Marcel zu Brazel, der den Offizier an die Fundstelle führte, wo die beiden noch weiteres Material auflasen. Am Morgen des 8. Juli zeigte Marcel diese Überreste Blanchard, welcher nun seinerseits den Chef der Eighth Air Force, Brigadier General Roger Ramey, auf dem Fort Worth Army Air Field (FWAAF) in Texas von der Entdeckung in Kenntnis setzte. Ramey veranlaßte daraufhin die sofortige Übersendung der Trümmer an seine Dienststelle per Luftfracht.

Sensation um die Aussagen eines Leichenbestatters aus Roswell

Parallel hierzu erschien die Lokalzeitung Roswell Daily Record mit der Schlagzeile „RAAF erbeutet fliegende Untertasse auf einer Ranch in der Gegend von Roswell“, wobei das Blatt auf angebliche Verlautbarungen von First Lieutenant Walter Haut verwies, der als Pressesprecher der Basis fungierte. Doch nur wenige Stunden später erklärte Ramey im Beisein seines Stabschefs Colonel Thomas DuBose und einiger Reporter in Fort Worth, bei den Funden von Brazels Ranch handele es sich zweifelsfrei um die Reste eines abgestürzten Wetterballons zur Windmessung. Daraufhin titelte der Roswell Daily Record am 9. Juli: „General Ramey entleert die Roswell-Untertasse“.

Danach wurde es jahrzehntelang still um den vermeintlichen Ufo-Absturz in New Mexico, bis die Boulevardzeitung National Enquirer am 28. Februar 1980 einen Bericht über Marcel brachte, in dem es hieß, der Major habe damals etwas gesehen, das „nicht von dieser Erde“ stamme. Diese Aussage findet sich auch in dem im Oktober des gleichen Jahres erschienenen Buch „The Roswell Incident“ von Charles Berlitz und William Moore. Darin wurde allerdings nicht nur die These von der Havarie einer „Fliegenden Untertasse“ wieder aufgegriffen, sondern zusätzlich behauptet, das US-Militär habe an der Unfallstelle mehrere lebende oder tote „Außerirdische“ gefunden.

Um abgestürzte „Aliens“ ging es dann ebenso in dem 1991 erschienenen Buch „UFO Crash at Roswell“ von Kevin Randle und Donald Schmitt, das nicht zuletzt auf den Aussagen des Leichenbestatters Glenn Dennis aus Roswell beruhte, die freilich keiner näheren Überprüfung standhielten. Und im Jahr darauf kam schließlich noch das von Stanton Friedman und Don Berliner verfaßte Werk „Crash at Corona“ auf den Markt. Das enthielt die „Enthüllung“, daß 1947 zwei „Fliegende Untertassen“ abgestürzt seien. Die Folge hiervon war ein Schisma unter den Ufologen, welches bis heute andauert, weil man sich nicht darüber einigen kann, wie viele Ufo-Havarien an welchen Orten in New Mexico und wie viele Überlebende und Tote es dabei unter den Insassen gegeben habe.

Ungeachtet dieses Streites beauftragte der Kongreßabgeordnete Steven Schiff aus New Mexico im Januar 1994 das General Accounting Office (GAO) der Vereinigten Staaten, dem ähnliche Aufgaben obliegen wie dem deutschen Bundesrechnungshof, mit der Überprüfung der Gerüchte um eine durch Steuergelder finanzierte Vertuschungsaktion rund um die Trümmer von der Foster Ranch. Daraufhin erlegte das GAO der United States Air Force (USAF) auf, sämtliche Akten über den Fall auszuwerten. Das Ergebnis dieser Untersuchungen wurde am 27. Juli 1994 veröffentlicht: Tatsächlich sei 1947 kein Wetterballon auf Brazels Ranch niedergegangen, wie von Ramey behauptet, sondern ein Ballon des Projektes „Mogul“. Und das unterlag seinerzeit der höchsten Geheimhaltungsstufe Top Secret A-1, weshalb die US-Luftwaffe eine alternative Version in Umlauf bringen mußte. Erklärtes Ziel von „Mogul“ war dabei gewesen, die bei sowjetischen Atomtests erzeugten Schallwellen aufzufangen.

Alle Beweismaterialien zum Ufo-Absturz erwiesen sich als gefälscht

1997 reichte die USAF einen zweiten Bericht nach, in dem nun auch auf den Vorwurf eingegangen wurde, das Militär verheimliche die Existenz von Außerirdischen aus dem Wrack in Roswell. Der war zu diesem Zeitpunkt gerade wieder in aller Munde, weil der Fernsehsender Fox News am 28. August 1995 den Film „Alien Autopsy: Fact or Fiction?“ des britischen Produzenten Ray Santilli ausgestrahlt hatte, in dem man sehen konnte, wie Männer in weißen Kitteln einen angeblich nichtmenschlichen Körper „obduzierten“. Die Luftwaffe verwies nun darauf, daß sie früher während der ebenfalls geheimen Operation „High Dive“ Crashtest-Dummys aus Ballons abgeworfen habe, um Fallschirmsysteme zu testen, wobei wohl einige der dabei lädierten Puppen von Zivilisten gesichtet worden seien.

2006 bestätigte Santilli dann auch die Unechtheit seines Filmes – zudem erwiesen sich in den folgenden Jahren alle übrigen „Beweismaterialien“ zum Ufo-Absturz bei Roswell als gefälscht, worauf­hin der diesbezügliche Mythos schließlich 2017 endgültig zu Grabe getragen wurde. Gleichzeitig enthüllte die New York Times aber, daß das Pentagon seit 2007 jährlich 22 Millionen Dollar für sein „Advanced Aerospace Thread Identification Program“ zur Erforschung von Unidentified Aerial Phenomena (UAP) aufgewendet hatte. Das US-Militär, welches im Falle Roswell ein Dementi nach dem anderen abgab, nahm das Problem der „Unbekannten Flugobjekte“ also dennoch ernst.

Das Programm wurde 2012 beendet, aber anschließend vermutlich vom Auslandsgeheimdienst CIA fortgeführt. Zudem bestätigte das US-Verteidigungsministerium 2020 die Existenz der U.S. Navy’s Unidentified Aerial Phenomena Task Force. Diese wertete 144 Berichte über Ufos aus den Jahren 2004 bis 2021 aus, wobei sie nur in einem Fall eine plausible „irdische“ Erklärung bieten konnte. Am 23. November 2021 wiederum entstand auf Anweisung der stellvertretenden US-Verteidigungsministerin Kathleen Hicks die dem Under Secretary of Defense for Intelligence & Security, Ronald S. Moultrie, unterstehende Airborne Object Identification and Management Synchronization Group (AOIMSG). Der obliegt nun die Koordination der „Ortung, Identifizierung und Zuordnung“ aller unbekannten Flugobjekte. Wobei die USA hinter den UAP weniger Außerirdische als vielmehr neue chinesische oder russische Rüstungstechnologien vermuten.

Aber genau festlegen will sich am Ende niemand, wie die öffentliche Anhörung zu den Ufo-Sichtungen im US-Repräsentantenhaus Mitte Mai dieses Jahres zeigte. In deren Verlauf bekannte der Unterstaatssekretär Moultrie in Reaktion auf den Einwurf des Abgeordneten Peter Welch aus Vermont „Keiner weiß, ob es außerirdisches Leben gibt!“ gegenüber den Parlamentariern: „Wir sind offen für alle Hypothesen und Schlußfolgerungen, auf die wir stoßen könnten.“

Fotos: „Autopsie-Raum“ mit Alienpuppe als Film-Requisite im Ufo-Museum Roswell: Ab den 1980er Jahren ging die Ufo-Manie erst richtig los; Roswell heute: Der Fund wurde, obwohl 100 Kilometer entfernt, nach dem Ort benannt; Schlagzeile des Roswell Daily Record, 8. Juli 1947: „Fliegende Untertasse erbeutet“; Major Jesse Marcel zeigt im Juli 1947 Trümmer von der Fundstelle: Reste eines Wetterballons, „Roswell-Untertasse ausgeleert“