© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Kontroverses aus dem Kollektiv
Kunstschau: In der kommenden Woche beginnt in Kassel die fünfzehnte documenta
Regina Bärthel

Am 18. Juni 2022 eröffnet die 15. documenta und zeigt bis 25. September im Museum Fridericianum sowie an weiteren Orten der nordhessischen Stadt Kassel, was die Kunstwelt zur Zeit bewegt.

Seit 1955 präsentiert die documenta alle fünf Jahre internationale zeitgenössische Kunst und gehört zu den wichtigsten Ausstellungen weltweit. Dabei bildet sie die Entwicklungen der Kunstwelt ab: Stammte die „Weltkunst“ zunächst aus dem westlichen Raum, wurden später auch Positionen anderer Kulturkreise einbezogen. Setzte man einstmals auf eigensinnige Persönlichkeiten wie den „Künstlerkurator“ Harald Szeemann (d5, 1972), arbeitete man ein Vierteljahrhundert später zunehmend in Teams bzw. mit Co-Kuratoren. 

Nun, in Vorbereitung zur 15. documenta, wurde die Verantwortung erstmals an ein Künstlerkollektiv und erstmals an ein Team aus dem asiatischen Raum übertragen. Das im indonesischen Jakarta ansässige Kollektiv Ruangrupa (zu deutsch: Kunstraum oder Raumform) existiert seit 2000. Als gemeinnützige Organisation fördert es die Zusammenarbeit zwischen Kunst, Sozialwissenschaften, Politik und Technologie und beschäftigt sich mit aktuellen urbanen Problemen. Grundidee der „documenta fifteen“ seien die Werte des indonesischen lumbug, einer gemeinschaftlich genutzten Reisscheune, mithin eines kollektiv genutzten Bestandes. Dementsprechend beschäftigt man sich 2022 mit den Fragen um „Nachhaltigkeit in ökologischer, sozialer und ökonomischer Hinsicht, bei dem Ressourcen, Ideen oder Wissen geteilt werden, sowie auf sozialer Teilhabe“.

Auseinandersetzung um den Vorwurf des Antisemitismus

Die Künstlerliste wurde ungewöhnlicherweise im Straßenmagazin Asphalt aus Hannover veröffentlicht und weist nur wenige hierzulande bekannte Namen auf. Das – Pardon – leitende Kollektiv Ruangrupa hat überwiegend Künstlerkollektive eingeladen, die wiederum andere Kollektive hinzuziehen konnten. So soll sich die Ausstellung in einem offenen, gemeinschaftlichen Prozeß entwickeln, bei dem es weniger um Künstlerpersönlichkeiten und ästhetische Fragen geht, sondern um weitreichende gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Die Herkunft aller Beteiligten wird übrigens lediglich durch die Angabe von „Heimatzeitzonen“ bezeichnet. So entsteht ein globales Netzwerk, eine Kartographie, die auf Länder- und Kulturgrenzen verzichtet und sich damit einem Rhizom annähert, also der Metapher für die poststrukturalistische Idee der Wissensorganisation in hierarchiefreien Vielheiten und Zusammenhängen. Und dessen Wuchsrichtungen schwer oder gar nicht vorauszusehen sind.

Allerdings speichern Rhizome oder Wurzelstöcke (man denke an Ingwerknollen) auch jene Nährstoffe, die sie aus ihrer Umwelt erhalten. Auf Kunst und Gesellschaft übertragen wären das Kultur, Traditionen und Geschichte – die selbstredend nicht überall auf der Welt die gleichen sind. Und so sah sich Ruangrupa in den vergangenen Monaten mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert: Das zur documenta 15 eingeladene palästinensische Kollektiv „The Question of Funding“ stehe der antiisraelischen Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) nahe, deren Aktivitäten der Bundestag 2019 in einer Resolution verurteilt hatte. Es widerspricht der Freiheit der Kunst wie der freien Meinungsäußerung, umstrittene Positionen per se zu bannen – doch wurde zur documenta 15 kein israelischer Künstler eingeladen, was Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, kritisiert. Ein pro-israelischer Gegenpart wird also womöglich fehlen, was einen offenen Diskurs zum Thema Israel erschweren dürfte. 

Wie schwerwiegend der Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland ist, zeigte eine breite Debatte in den hiesigen Feuilletons. Daß die Macher der documenta 15 für Mai eine Gesprächsreihe („We need to talk!“) zum Thema ankündigten, die dann kurzfristig wieder abgesagt wurde, war daher „ein Kommunikationsdesaster“, wie Johannes Schneider in der Zeit darlegte. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) verweigerte zwar 2019 ihre Unterschrift zum BDS-Beschluß, verkündete aber nach dem Scheitern der Gesprächsreihe gemeinsam mit Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, „daß Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Formen keinen Platz in Deutschland und weltweit haben darf, auch nicht auf der Documenta“. Und seit Christian Morgenstern weiß man ja, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.

Angesichts der antisemitischen Parolen bei propalästinensischen Demonstrationen, die sogar Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verurteilte, sowie der wachsenden Zahl an Übergriffen gegen Juden in den linksextremistisch und/oder muslimisch geprägten Bezirken europäischer Großstädte muß die Debatte um Israel, Palästinenser und Antisemitismus zwingend geführt werden, gerade in Deutschland.

Obliegt diese Aufgabe aber einer Kunstausstellung, deren Konzeption man Kuratoren aus Asien übertragen hat? Denn der Holocaust, der nationalsozialistische Völkermord an den Juden, gehört womöglich nicht zur kulturellen DNA bzw. zum im Rhizom abgelagerten Stoff von Ruangrupa. Vielmehr ist es die postkoloniale Perspektive – Kritik an der Okkupation indigenen Lebensraums durch fremde Mächte –, die einen Teil des Programms bestimmt und mittelbar auch zum Antisemitismus-Vorwurf führte. Der Postkolonialismus ist längst in der internationalen Kunstszene angekommen; um so wünschenswerter wären auch hierzu ergebnisoffene Debatten. Denn der Staat Israel markiert einen jener Brennpunkte, denen man sich nicht mit vereinfachenden Täter-Opfer-Zuschreibungen nähern kann, sondern dessen Funken in vielfältigen Richtungen Brände entfachen. Übrigens kennt auch Indonesien durch den in den 1960er Jahren begründeten Papuakonflikt einen gewaltvollen Kampf um Autonomie.

Kunst muß unterschiedliche Aspekte beleuchten

Wenn Kunst dem Anspruch gerecht werden will, gesellschaftliche Vorgänge abzubilden und zu begleiten, wenn sie ihre Freiheit und Unabhängigkeit bewahren will, dann muß sie sich auch vor der Realität und ihren widerstreitenden Aspekten verantworten. Mithin muß sie Fragestellungen aus unterschiedlichen Aspekten beleuchten, müssen Kuratoren dafür sorgen, daß Themen durch kontroverse Positionen beleuchtet werden. Ob die „documenta fifteen“ diesem Anspruch nachkommt, wird für 100 Tage in Kassel zu sehen sein. Von Vorverurteilungen und Schmierereien – Ende Mai wurde der Ausstellungsort der kritisierten Künstlergruppe attackiert – sollte man unbedingt Abstand nehmen, davon gibt es in Deutschland schon mehr als genug.

Bleibt die Frage: Stehen Kollektive per se für kontroverse Betrachtungen? Bis zu einem gewissen Grad vielleicht, doch finden Gruppen sich ja zusammen, weil sie eine gemeinsame Idee verfolgen. Der Resonanzraum ist dadurch abgesteckt. Gleichwohl ist der konstruktive Austausch unter den zur Ausstellung geladenen künstlerischen Positionen sowie deren wertfreie Vermittlung an Besucher ein Anliegen der documenta 15. Eine große Aufgabe, die schon zahlreiche Vorgänger beschäftigte. 

 https://documenta-fifteen.de

Fotos: Im Kasseler Park Karlsaue vor der Orangerie errichtete das Künstlerkollektiv The Nest aus Kenia einen Ausstellungsbau aus Altkleidern: Mit der Installation soll auf das Problem der Entsorgung von Textilien und Elektromüll in die Länder des globalen Südens aufmerksam gemacht werden; Präsentation im vergangenen Oktober der Zeitschrift „Asphalt“ mit der kompletten Liste der ausstellenden Künstler der documenta 15