© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

CD-Kritik: Anton Bruckner
Eine Romantische
Jens Knorr

Bruckners Vierte mit einem andern als dem geläufigen Finalsatz, aber auch mit einem andern als dem „Volksfestfinale“, vor allem aber mit einem andern dritten Satz als dem „Jagdscherzo“? Während Christian Thielemann mit den Wiener Philharmonikern gegen alle Mode die neun Symphonien von Anton Bruckner in ihren ungeteilten kanonischen Fassungen reproduziert, geht in Hinblick auf das Bruckner-Jahr 2024 Markus Poschner mit dem Bruckner-Orchester Linz alle neune in allen ihren Fassungen an. Da ist ihm Gerd Schaller mit seiner Philharmonie Festiva einige Takte weit voraus. Seinen Einspielungen der Endfassung von 1878/1880 (2007) und der Zwischenfassung mit dem „Volksfestfinale“ (2013) hat Schaller im vorigen Jahr die Erstfassung der Vierten von 1874 folgen lassen, ob ihrer „Kühnheit und ihrer teils sogar experimentellen Züge“ unter allen Fassungen sein „persönlicher Favorit“.

In entgegengesetzter Richtung zur Erstfassung zurück gehört, stößt der Hörer zu dem Urgrund des Brucknerschen Komponierens vor. Unter Schallers Dirigat läuft, was da laufen will, mutieren und teilen sich motivische Zellen, überlagern sich rhythmische Strukturen, blühen melodische Linien groß auf. Der musikalische Verlauf folgt nicht einer Form, die Form bildet sich im Verlauf.

An diesem Ort, der Abteikirche des ehemaligen Zisterzienserklosters von Ebrach in Franken, mit diesem Orchester und unter diesem Dirigenten klingt Bruckners Vierte auch da schon als eine „Romantische“, als sie noch nicht die „Romantische“ war.

Anton Bruckner 4. Sinfonie Fassung 1874 Profil Edition Günter Hänssler 2022

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 www.gerd-schaller.de