© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Bildungsbericht in loser Folge: Nur der guten Ordnung halber sei angemerkt, daß Cem Özdemir mein Religionsunterricht gefallen hätte: Keine Drogen, keine Sexualprobleme, keine Sekten, aber jede Menge Bibelkunde, Pentateuch und Evangelien.

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Die Welt am Sonntag (Ausgabe vom 29. Mai) hat einen lesenswerten Artikel über den „dysfunktionalen“ Staat gebracht. Da geht es um die „Ohnmachtserfahrungen“ des Bürgers angesichts grotesker bürokratischer Forderungen, um die Selbstbedienungsmentalität der Politischen Klasse, um gigantische Planungsfehler und sinnlose Ausgaben in Milliardenhöhe, um eine Bundeswehr, die das Land kaum verteidigen könnte, um einen Zivilschutz, der faktisch nicht vorhanden ist, um Staus auf den Autobahnen, um dauerhafte Zugverspätungen, um schlampige Paketdienste und eine für Durchschnittsbürger kaum verständliche Steuererklärung. Nach einer Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach erklärten 2007 gerade einmal 55 Prozent der Befragten, sich „vor kurzem über ein Amt geärgert“ zu haben, 2021 waren es 77 Prozent, etwa 80 Prozent der Deutschen sind überzeugt, daß die Verwaltung nicht tut, was sie eigentlich tun sollte. Gegen diese Zustandsbeschreibung ist wenig einzuwenden. Allerdings sucht man in dem Text der WamS vergeblich nach einer Analyse der tieferen Ursachen dieses desaströsen Zustands. Dabei liegen die auf der Hand: systematischer Bildungsabbau, Beseitigung des Leistungsprinzips, Wohlstandsverwahrlosung, Parteibuchwirtschaft, Negativauslese.

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Die Untersuchung von 136 Knochenresten durch die Max-Planck-Institute für Menschheitsgeschichte (Jena) und für evolutionäre Anthropologie (Leipzig), die man der bronzezeitlichen Kultur von El Argar in Südspanien zuordnen kann, hat ergeben, daß es am Ende des 3. vorchristlichen Jahrtausends eine massive Invasion des Gebietes aus der Steppenlandschaft am östlichen Rand Zentraleuropas gegeben haben muß. Die läßt sich mit dem Eindringen der Indoeuropäer in Verbindung bringen. Bemerkenswert erscheint in dem Zusammenhang, daß El Argar – wie das Reich von Nebra – zu den frühen Beispielen der Staatsbildung auf dem Kontinent gerechnet werden darf, weshalb viel für die Annahme spricht, daß der eine wie der andere Fall die ältere Theorie von der Überlagerung als Ausgangspunkt strikter politischer Organisation bestätigt.

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Der Reiz der norwegischen Serie „Befor-eigners“ liegt nicht darin, daß zum wiederholten Mal irgendeine Zeitreisegeschichte erzählt wird, sondern in der leicht ironisch gefärbten Art, mit der sie das Thema „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ behandelt. Es geht also darum, was es für das Konzept der „acceptance“ bedeuten würde, wenn man Menschen aus früheren Epochen mit ihren Lebensgewohnheiten (Jagen, Sammeln und Fischfang, traditioneller Ackerbau), Glaubens- (altnordisches Heidentum, missionierendes Christentum) und Moralvorstellungen (Patriarchat, Puritanismus) in eine heutige Gesellschaft integrieren müßte. Lehnt man jeden „timeism“ ab, der die Assimilierung verlangt, und duldet im Sinne des Relativismus das Nebeneinander radikal verschiedener Lebensentwürfe, muß das zu Konflikten führen, mit denen die Bruchlinien des Multikulturalismus relativ harmlos erscheinen.

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„Die Linke ist also gesellig, bildet Klubs und Gruppen, wärmt sich an der herzlichen Übereinstimmung der Individualitäten; die Rechte nicht.“ (Johannes Gross, 1965)

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Am Freitagmittag sieht man in Paris am Gare de l’Est eine ganze Gruppe orthodoxer Juden in den Zug einsteigen. Dann wird während der Fahrt klar, daß wegen der Verspätung Frankfurt am Main nicht vor 18 Uhr, dem Beginn des Sabbats, erreicht werden kann. Woraufhin einer der Männer durch die Waggons geht, jedem männlichen Passagier prüfend ins Gesicht schaut und von Fall zu Fall erst auf französisch, dann auf englisch fragt, ob der betreffende Jude sei.

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Das späte Bekenntnis von „Campino“ (Andreas Joachim Wolfgang Konrad Frege, Frontmann der „Toten Hosen“) zur bürgerlichen Ehe und zur militärischen Verteidigung – angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine sind ihm Zweifel an der eigenen Kriegsdienstverweigerung gekommen – könnte noch überzeugender sein, wenn es mit Einsicht in die destruktiven Gesamtfolgen dessen verknüpft wäre, was er und seinesgleichen durch ihr „künstlerisches“ Tun über Jahrzehnte angerichtet haben. 

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Das Pariser Musée de l’Homme, das sich in erster Linie mit der Evolution des Menschen befaßt, ist sehr um Politische Korrektheit bemüht. Aber dann streift der interessierte Besucher durch das Bücherangebot des Hauses und findet eine Reihe großformatiger Bände für Kinder unter Titeln wie „Die abenteuerliche Geschichte der Entdeckungen“, „Die abenteuerliche Geschichte der Erfindungen“, „Die abenteuerliche Geschichte der Astronomie“ etc. und auf den Umschlägen gezeichnet die wichtigsten Repräsentanten des Themas. Und was sieht er da? – Nur weiße Männer.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 24. Juni in der JF-Ausgabe 26/22.