© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

A wie Adrian
Kino: In ihrem bislang schwächsten Langfilm inszeniert die Regisseurin Nicolette Krebitz einen absurden Altdamentraum
Dietmar Mehrens

Der Tabubruch, den der US-amerikanische Filmregisseur Hal Ashby 1971 mit „Harold und Maude“ wagte, paßte blendend in die Zeit. Alle bürgerlichen Konventionen wurden in Frage gestellt, kein Stein des Gesellschaftsbaus blieb im Denken der Hippie-Generation auf dem anderen, und in der Traumfabrik revolutionierte das New Hollywood Seh- und Erzählgewohnheiten. Harold, ein frustrierter, lebensmüder Jüngling, freundet sich mit Maude, einer hochbetagten Seniorin an. Am Ende beschließt er, die rüstige Rentnerin zu ehelichen.

Eine Adaption des „Harold und Maude“-Themas für die Gegenwart hat nun Nicolette Krebitz (49) unternommen. Die als Schauspielerin in „Bandits“ (1997) an der Seite von Katja Riemann und Jasmin Tabatabai (mit der Krebitz auch heute noch gemeinsam Musik macht, auch für diesen Film) bekannt gewordene Regisseurin hat bislang durch äußerst extravagante, ja skurrile Filme von sich reden gemacht: In „Das Herz ist ein dunkler Wald“ (2007) variierte sie das Medea-Thema, in „Wild“ (2016) spürte sie tierischen Instinkten im Menschen nach. Und nun also „Harold und Maude“ fürs deutsche Kunstkino-Publikum, unter dem Titel „A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe“.

„Alles beginnt mit einem A. A wie Adrian“, läßt die Sprechtrainerin Anna (Sophie Rois) ihr Publikum zu Beginn des Films wissen. Das gilt auch für die Verdächtigen, die ihr in einem südfranzösischen Urlaubsort vorgeführt werden. Statt mit Zahlen sind diese mit den Buchstaben A, E, I, O und U markiert. Wie es Anna nach Frankreich verschlagen hat und welcher Übeltäter hier überführt werden soll, bleibt zunächst unklar. 

Erst mal wird die Vorgeschichte erzählt. Und in der geht es um den schwer erziehbaren Hallodri Adrian (Milan Herms), der in einem supersozial-integrativen Theaterprojekt eine Rolle spielen soll. Leider ist seine Sprechweise dermaßen nuschelig, daß eine Sprachdidaktin benötigt wird, die dem 17jährigen Lümmel neben der theatergerechten Aussprache – wieder geht’s also um die fünf Vokale – am besten auch gleich ein paar allgemeine Manieren beibringt.

In Frankreich betätigt sich der Junge als Juwelendieb

Hier kommt die abgehalfterte Schauspielerin Anna ins Spiel, die auf Adrian zunächst reagiert wie die arme Seele auf den Teufel, sich dann aber von ihm umgarnen läßt. Völlig rätselhaft bleibt vom Anfang bis zum Ende des Films, was den jungen Mann an der 60jährigen Dame fasziniert. Auch sonst bleibt Adrian ein reines Drehbuchkonstrukt, eine Kunstfigur ohne die geringste Glaubwürdigkeit. Das ist der krasse Unterschied zur stimmigen Harold-Figur in Hal Ashbys Klassiker. Sympathisch wie der von Jean-Paul Belmondo in Godards „Außer Atem“ (1960) verkörperte Ganove (einige wollen in dem Film eine Hommage an das französische Kino gesehen haben) ist die Nervensäge auch nicht. 

Staunend bis irritiert nimmt der Zuschauer daher Notiz von Adrians Annäherungsversuchen, muß lange Zeit davon ausgehen, daß er seine Erzieherin auf den Arm nehmen will. Als es dann aber tatsächlich Liebe sein soll, ist der Draht zwischen Film und Zuschauer ein für allemal gekappt. Mit Gleichmut und innerer Teilnahmslosigkeit nimmt er anschließend noch zur Kenntnis, daß die beiden wie im gleichnamigen Truffaut-Film Tisch und Bett teilen und gemeinsam nach Frankreich düsen, wo Adrian sich als Juwelendieb betätigt. Achselzuckend folgt er den Schwierigkeiten, in die Anna das immer wieder bringt, und findet schließlich auch den Anschluß an die Anfangsszene mit den Verdächtigen. 

Man muß es leider so hart sagen: Dieses „Alphabet der Liebe“ hat sich offenbar eine Frau zusammenbuchstabiert, die sich und ihren Geschlechtsgenossinnen einreden möchte, daß frau sich auch jenseits der Fünfzig noch genauso attraktiv und begehrenswert fühlen kann wie eine Zwanzigjährige. Um das glauben zu können, hätte aber ein stärkerer Film hergemußt und nicht eine dermaßen desolate Altweiberphantasie.

Kinostart ist am 16. Juni 2022