© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Satire als ziviler Ungehorsam
Hausbesuch: Der Übersetzer Thomas Reschke feierte seinen 90. Geburtstag / Ein Gespräch über Dissidenz in der DDR
Artur Abramovych

In einem bis zur Decke mit Büchern gefüllten Wohnzimmer in Berlin-Pankow, unweit des ehemaligen Grenzübergangs Bornholmer Straße, an dem 1989 die Mauer fiel, empfängt Thomas Reschke in derselben Wohnung, in die er vor rund sechzig Jahren, als Redakteur des DDR-Verlags Volk und Welt, einzog. Seine berlinernde Ungezwungenheit und Heiterkeit läßt nicht erahnen, daß man dem wohl produktivsten lebenden Übersetzer aus dem Russischen ins Deutsche gegenübersitzt, aus dessen Feder die deutschen Ausgaben mitunter der bedeutendsten russischen Romane des 20. Jahrhunderts stammen und dessen Arbeiten zu großen Teilen nach wie vor maßgeblich sind, auch wenn ihre Entstehung Jahrzehnte zurückliegt: Reschkes Übersetzung von Boris Pasternaks nobelpreisgekröntem Roman „Doktor Schiwago“ etwa ist die nach wie vor beste.

Reschke, am 4. Juni 1932 in Danzig zur Welt gekommen, floh 1945 mit seiner Familie ins Mecklenburgische und studierte in Berlin Slawistik. Daß er eher zufällig Übersetzer wurde, scheint ihn noch heute zu amüsieren. Kurz vor dem Staatsexamen wurde er zur „Berufsberatung“ an der Humboldt-Universität vorgeladen. Die aus drei Mitgliedern bestehende Kommission war sich bereits von vornherein darin einig, daß er eine Laufbahn im Verlagswesen einschlagen sollte. Reschke hatte gar keine andere Wahl. Wie er sagt, habe er diese nicht ganz freiwillige Entscheidung allerdings nie bereut. Man ist angesichts dessen verleitet, zu scherzen, daß Reschke zu den raren Profiteuren der eingeschränkten Berufsfreiheit im real existierenden Sozialismus gehört.

Er sollte nicht der einzige in der Familie bleiben, der sich der Übersetzungskunst verschrieb. Seine jüngere, späterhin in den Westen geflohene Schwester Angela Plöger folgte seinem Rat und ergriff denselben Beruf; allerdings spezialisierte sie sich auf das Finnische. „Sie hat es im Gegensatz zu mir auch in der Wissenschaft zu etwas gebracht, während ich immer nur ein Praktiker war“, befindet Reschke. Und auch seine 2017 verstorbene Frau Renate, die er bei Volk und Welt kennenlernte und mit der er über drei Jahrzehnte verheiratet war, verschrieb sich der literarischen Übersetzung. Sie widmete ihre Kraft etwa dem bei Stalin in Ungnade gefallenen Epiker Andrej Platonow. Zudem kooperierte sie mehrfach mit ihrem Mann; die Übersetzung des satirischen Romans „Zwölf Stühle“ des Odessaer Autorenduos Ilja Ilf und Jewgenij Petrow etwa ist eine Gemeinschaftsarbeit des Ehepaars.

Von der sowjetischen Zensur gestrichene Stellen übersetzt

„Zwölf Stühle“ (1928) und der Nachfolger „Das goldene Kalb“ (1931) handeln vom erfindungsreichen Trickbetrüger Ostap Bender, der die Schwächen der jungen Sowjetunion ausnutzt, um zu inzwischen verbotenem Reichtum zu gelangen und nach Rio de Janeiro auszuwandern. Obwohl diese zwei Romane zu Klassikern der sowjetischen Literatur avancieren sollten, wurde selten ein solcher Schabernack mit der absurden kommunistischen Bürokratie getrieben wie hier. Auch ein weiterer Lieblingsautor Reschkes, der 1946 aus Partei und Schriftstellerverband ausgeschlossene und erst unter Chruschtschow rehabilitierte Michail Sostschenko, persiflierte in seinen Erzählungen den sowjetischen Alltag und trieb den bürokratischen Neusprech, das, was man in der DDR gern „Kaderwelsch“ nannte, auf die Spitze. Diese zu komischer Deutlichkeit entstellende Darstellung der sowjetischen Realität im Deutschen „nachzuformen“, wie er sagt, war seit jeher Reschkes Leidenschaft.

Als „Höhepunkt“ seines Schaffens allerdings betrachtet er seine Übersetzung eines weiteren Satirikers, seines „absoluten Lieblingsautors“ Michail Bulgakow (1891–1940). Der heute als Klassiker geltende Bulgakow konnte zu Lebzeiten kaum eines seiner Werke veröffentlichen; zumal in der DDR war bis in die sechziger Jahre hinein nur ein Theaterstück von ihm bekannt. Dabei schrieb er brillante Novellen, in denen er sich über die sowjetische Technokratie lustig machte, etwa das mehrfach verfilmte „Hundeherz“ (entstanden 1925, erstmals 1968 veröffentlicht). Als sein bedeutendstes Werk gilt allerdings der das deutsche Faust-Motiv variierende Roman „Der Meister und Margarita“, entstanden 1928–1940, worin er den Teufel mitsamt apokalyptischem Gefolge im bolschewistischen Moskau auftauchen läßt und sich selbst als den von der Sowjetmacht verschmähten und in der Psychiatrie festgehaltenen Meister porträtierte. Dieser Roman konnte zu Lebzeiten Bulgakows nicht erscheinen und wurde erst 1966 in einer verstümmelten Fassung gedruckt.

Insbesondere die Entstehungsgeschichte von Reschkes „Meister und Margarita“-Übersetzung ist interessant. Nachdem er vom Verlag beauftragt worden war, Bulgakows großen Roman zu übersetzen, erhielt er per Post eine Broschüre; bis heute hat Reschke nicht herausfinden können, wer der anonyme Absender war. Beim Inhalt handelte es sich um die etwa 180 von der sowjetischen Zensur gestrichenen Stellen aus dem Roman, manche Streichungen nur ein Wort umfassend, andere bis zu zwölf Seiten lang. Insgesamt rund ein Sechstel des Romanumfangs war diesen Streichungen zum Opfer gefallen. Reschke konnte dadurch einige kleinere Streichungen in seine Übersetzung „hineinmogeln“, ohne daß es der DDR-Zensur aufgefallen wäre.

Diese Übersetzung sollte ihm nicht nur ein Herzensanliegen sein, sondern auch seine Karriere entschieden befördern. 1967, als er erstmals zu einem Studienaufenthalt in Moskau war und bereits an der Übersetzung von „Meister und Margarita“ arbeitete, wurde er von den russischen Gastgebern ehrfürchtig angestaunt; man machte ihn sogar bekannt mit der Witwe Bulgakows, Jelena, die sich nach dem Tod ihres Gatten jahrzehntelang für das Erscheinen des Romans eingesetzt hatte.

Reschke stimmt unumwunden zu, wenn man vermutet, daß es für ihn jenseits aller Karrierefragen eine Art Akt zivilen Ungehorsams war, Satiren auf die Sowjetmacht zu übersetzen. „Das liegt mir, das deckt sich mit meiner Weltsicht.“ Der Felix Krull, so sagt er, sei nicht zufällig sein Lieblingsroman von Thomas Mann; die Figur des humoristischen Hochstaplers, der seine Umgebung dazu bringt, ihre eigene Hypokrisie hervorzukehren, scheint ihn schon immer begeistert zu haben.

Daß sich Reschke als Übersetzer trotz Stasi-Überwachung weitgehend ungehindert entfalten konnte, hat nicht zuletzt mit dem für DDR-Verhältnisse recht liberalen Klima zu tun, das bei Volk und Welt herrschte. Doch trotz seiner privilegierten Stellung und all des Glücks, das ihm hold war (denn die Stasi befand es nie für nötig, „Zersetzungsmaßnahmen“ gegen ihn anzuwenden), hält Reschke Günter Grass’ Wort von der „kommoden Diktatur“ für „Quatsch“. Vor allem litt er unter der Zensur. Solschenizyn etwa oder auch ein so „mutiges Buch“ wie Monika Marons „Flugasche“ mußten ihm heimlich aus dem Westen mitgebracht werden. „Ich habe immer Verwandte und Freunde Bücher mitbringen lassen. Das war nicht ohne, weil die DDR-Zöllner besonders geil auf alles Gedruckte waren“, erinnert sich Reschke lachend. „Meine Schwester und ihr Mann haben auch schon mal ein dickeres Buch entzweigeschnitten und es unter der Kleidung reingeschmuggelt.“ Als besonders glaubwürdige Darstellung der Verhältnisse in der DDR betrachtet Reschke die Autobiographie des Dissidenten Chaim Noll, „Schmuggel über die Zeitgrenze“ (2015).

„Putin will die Ukraine als Staat und als Volk nicht gelten lassen“

Es scheint ihn noch immer zu martern, daß die vermeintlich kommode Diktatur auch an seinem Schaffen nicht ganz spurenlos vorübergegangen ist. Reschke ist nicht stolz, den Propagandaroman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (1935) von Nikolaj Ostrowski übersetzt zu haben, doch deutet er an, daß diese Übersetzung nicht ganz freiwillig entstand und der Kulturminister Hans Bentzien höchstselbst eine Rolle dabei spielte. Diese Übersetzung wurde vor einigen Jahren in einem rechten Kleinverlag, neu aufgelegt. Wie man sich für derartigen Agitprop begeistern könne, ist Reschke ganz unverständlich.

Zuletzt kommen wir um die Tagesaktualitäten doch nicht herum. Der ukrainischstämmige Sostschenko, die aus Odessa gebürtigen Ilf und Petrow, der aus Kiew gebürtige Bulgakow: die liebsten Autoren Reschkes haben zwar allesamt auf russisch geschrieben, stammten aber aus der Ukraine. Ob er die Ukrainer nicht vielleicht für die besseren Russen halte? „Sie sind gewiß nicht die besseren Menschen, aber im Gegensatz zu den Russen haben sie die Freiheit kennengelernt. Und es ist jetzt wichtig, nicht zu vergessen, daß Putin die Ukraine als Staat und als Volk nicht gelten lassen will.“ Den russischen Präsidenten nennt Reschke einen „Mordbrenner“.

Als Reschke 2002, anläßlich der Verleihung des Alexandr-Men-Preises für westeuropäisch-russische Verständigung, die Laudatio auf Anatoli Pristawkin hielt, sagte er über den Preisträger: „Es ist sein Traum, Rußland als geachtetes Mitglied der Völkerfamilie, des europäischen Hauses zu sehen.“ Leider, so Reschke, konnte der 2008 verstorbene Pristawkin Rußland nie als ein solches Land erleben. Und es sei auch fraglich, „ob wir es als solches noch erleben werden“.

Foto: Thomas Reschke in seiner Berliner Wohnung: 1987 erhielt er den Maxim-Gorki-Preis des sowjetischen Schriftstellerverbandes