© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Den Blick nach Westen
Vor 350 Jahren wurde Zar Peter der Große geboren / Kommt die von ihm begonnene Ausrichtung Rußlands nach Europa mit Putin zum Ende?
Eberhard Straub

Erst seit Peter dem Großen, dem ersten russischen Kaiser, vor 350 Jahren am 9. Juni 1672 geboren, gibt es ein von Gibraltar bis zum Ural reichendes europäisches Staatensystem und einen substantiellen Begriff von Europa. Ihm gelang es während des großen Nordischen Krieges von 1700 bis 1721 das nordische System, in dem Schweden und Polen um die Vorherrschaft stritten, umzustürzen und das Russische Reich zu der nordeuropäischen Großmacht zu erheben, ohne deren Mitsprache seitdem nichts mehr in Europa geregelt werden konnte. Vor allem Deutsche feierten ihn schon zu dessen Lebzeiten – Peter starb 1725 – als großartige Willensnatur und vorbildlichen Monarchen, nur vergleichbar mit Karl dem Großen oder Suleiman dem Prächtigen, den Gründern großer Reiche. Ja, im Russischen Reich erkannten sie ein wahres Weltreich, das die Alte Welt, Europa und Asien, in einen viel versprechenden Zusammenhang versetze.

Der Philosoph, Universalgelehrte und Historiker Gottfried Wilhelm Leibniz, im besten Sinne begeistert von dem Temperament des Herrschers, begriff ihn und das Reich, das dieser in allen Beziehungen umgestaltete, als verheißungsvolle Möglichkeit, Asien mit der europäischen Kultur zu durchdringen und vielleicht die ersehnte Einheit unter allen Christen herzustellen, die anziehend auf die übrige Menschheit wirken könnte, um mit ihnen gemeinsam eine in Vielfalt und Sonderformen dennoch vereinigte Gemeinschaft zu bilden. Peter der Große fühlte sich von dem Philosophen vollkommen verstanden. Er nannte ihn im Umgang ganz einfach Leibniz, weil es viele Staatsräte, aber nur einen, ganz einzigartigen Leibniz gebe. Auch Leibniz fühlte sich vollkommen verstanden.  Die Russische Akademie der Wissenschaften ist bis heute das eindrucksvolle Zeugnis ihrer planenden und alles berührenden und verändernden Phantasie, ohne die sich auch in der Welt der Tatsachen nichts machen läßt.

Alle möglichen Philosophen, Staatswissenschaftler, Philologen oder Historiker erklärten ihren Zeitgenossen das „veränderte Rußland“, in das sich manche so gründlich einlebten, daß sie – wie etwa August Ludwig von Schloezer, der wichtigste Kenner Rußlands – nicht nur als „Rußlandversteher“, sondern als engagierte russische Reichspatrioten argumentierten, selbst wenn sie wieder in Göttingen oder Leipzig schrieben und unterrichteten. Unter den Deutschen – Schriftstellern, Ministern und Fürsten – konnte sich sehr rasch eine besondere Aufmerksamkeit für das neue Rußland ergeben, weil Peter der Große, indem er die Türken bekämpfte, Schweden wieder auf eine Regionalmacht begrenzte und Polen um seine politische Selbständigkeit brachte, auch deutsche Interessen wahrnahm. Vor allem hatte er dafür gesorgt, daß Frankreich sich nicht mehr im Norden einmischen konnte und dort willige Mitspieler fand, das Reich und die Reichsfürsten zu gängeln und zu kontrollieren.  

Das Konzert der europäischen fünf Mächte kündigte sich an

Friedrich der Große sah im petrinischen Rußland „den natürlichsten Verbündeten“, gerade weil er diese kolossale Macht nicht zum Feinde haben wollte. Verglich anfänglich Peter der Große Rußland mit einem Mann, dem die Ärmel zugenäht waren, so nutzte er nach dem Sieg bei Poltawa 1709 die neue Bewegungsfreiheit, um im Konzert der Großmächte als Mitglied anerkannt zu werden und Rußlands Unabhängigkeit soweit zu sichern, daß europäische Konkurrenten im ständigen Wettbewerb untereinander es nie wieder wagten, Rußland zu bevormunden und dessen Souveränität geringzuschätzen. Im Konzert der fünf Mächte kam es darauf an, möglichst immer zu dritt zu sein. Trotz mancher unvermeidlichen Reibereien blieben die „drei Adler des Nordens“ – Rußland, Österreich und Preußen, beisammen und konnten sich vor den hegemonialen Absichten Frankreichs oder Englands schützen. Nach dem Scheitern der Revolution und Napoleons gelang es auf dem Wiener Kongreß 1815, dieses System wiederherzustellen, das bis 1914 Europa vor den Katastrophen bewahrte, die es seitdem erschütterten.

Nachdem Schweden besiegt, die baltischen Länder erobert, Polen in Abhängigkeit gehalten und Rußland zur Seemacht geworden war, fielen die Barrieren weg, die Rußland für immer auf ein Großfürstentum Moskau einschränken sollten. Es war der Weg frei, vor allem in den weiten Räumen Mitteleuropas, unentbehrlich zu werden. Peter der Große verheiratete seine Kinder und Verwandte mit deutschen Prinzen und Prinzessinnen. Das Haus Romanow geriet darüber in engste Verbindung mit der dynastischen Großfamilie der Reichsfürsten, was selbstverständlich politische Vorteile allen Beteiligten gewährte. Peter der Große reiste mehrmals nach Deutschland, aber auch in die Niederlande, nach England und Frankreich; er war neugierig auf alles, ein Lernender, der Lehrende suchte. Aber schon unter seiner Herrschaft kamen immer mehr Ausländer nach Rußland und wirkten als Lehrer und Anreger in der Rüstungsindustrie und bei der Organisation des Heeres, beim Aufbau der Flotte und in sämtlichen Industriezweigen, die dafür benötigt wurden. Der Krieg ist der Vater aller Dinge; darüber unterrichteten die modernen Staaten seit dem 16. Jahrhundert.

Peter der Große baute eine funktionierende Verwaltung auf

Wegen des stehenden Heeres brauchte man ein effizientes Steuersystem, eine funktionierende Verwaltung, Schulen, und Wissenschaftler, auf die jeder Staat angewiesen war, wollte er wettbewerbsfähig bleiben und anderen überlegen sein. Das alles bedachte Peter der Große. Ein ungemeiner Gewinn ergab sich für ihn aus der Eroberung der baltischen Länder. Er beließ der deutschen Ritterschaft und den Bürgern der einstmals stolzen Hansestädte Riga und Reval ihre Freiheiten. Sie erkannten sofort die Aussichten, die sich für sie im Reichsdienst eröffneten. Sie dienten nicht einem Zar aus Moskau, sondern dem Kaiser und dem Reich mit vielen Völkern. Deutsche, die daran gewöhnt waren, in einem Reich vielfacher Möglichkeiten und Unterschiede zu leben, brachen nun auch oft nach Rußland auf, um dort Karriere zu machen. Die Autokratie störte sie nicht sonderlich. Sie konnten leicht mit russischen Adeligen darin übereinstimmen, das es besser ist, sich einem Herrn zu fügen, statt einer Vielzahl gegeneinander intrigierender despotischer Aristokraten oder Funktionäre. Die notwendigen Reformen in Staat und Wissenschaft, Religion und Kunst ließen sich nicht durch Diskussion, sondern nur durch Entschlossenheit bewerkstelligen. 

Übrigens war das gar nicht undemokratisch, weil alle gleich vor dem Kaiser als lebendem Gesetz waren. Es war später Alexis de Tocqueville, der die Verwandtschaft der USA mit Rußland hervorhob, weil der Endzweck beider Staaten und Gesellschaften die vollständige Gleichheit sei, auf die sie eifersüchtiger achteten als auf ihre Freiheiten. Das Reich Peters des Großen in der nördlichen Hemisphäre Europas und Asiens gelegen, war etwas so Neues, wie alsbald das Reich im Norden Amerikas. Beiden gehöre die Zukunft, während Europa sich bald nur noch an das erinnern werde, was es einmal war, wie Baron Melchior von Grimm, ein aufgeklärter Intellektueller, 1790 an Katharina die Große schrieb. „Europa“ ist im Westen untergegangen und hadert mit seinen Vergangenheiten. Es will sich gar nicht daran erinnern, je mit Rußland als europäischer Ordnungsmacht eine gemeinsame Geschichte gehabt zu haben, und möchte unter keinen Umständen daran erinnert werden, daß auch Rußland notwendig in das System der Welt und der Menschheit gehöre.

Foto: Paul Delaroche, „Zar Peter der Große (1672–1725)“, Öl auf Leinwand 1838: Die verheißungsvolle Möglichkeit, Asien mit der europäischen Kultur zu durchdringen und vielleicht die ersehnte Einheit unter allen Christen herzustellen